Der moralische Impuls -
Beispiel 1
Theodor W. Adorno schildert 1963 in
einer Vorlesung zur Moralphilosophie eine Erfahrung, die er vierzehn
Jahre zuvor bei seiner Rückkehr nach Deutschland aus der
Emigration machte. Er berichtet von Motiven, die Fabian von
Schlabrendorff bewogen haben, am Widerstand gegen den
Nationalsozialismus teilzunehmen: "Ich hatte damals die
Gelegenheit einen der wenigen maßgeblichen Männer des
20.Juli kennenzulernen und habe mich mit ihm unterhalten, habe ihn
gefragt: 'Ja, Sie haben doch genau gewußt, die Chance, daß
Sie Erfolg haben mit der Verschwörung, ist minimal, und Sie mußten
doch auch wissen. daß, wenn Sie erwischt werden, daß Ihnen
weit Schrecklicheres als der Tod bevorsteht - unausdenklich
Schrecklicheres. Wie ist es Ihnen möglich gewesen, trotzdem so zu
handeln?' Und darauf sagte der Mann ...: 'Es gibt aber Situationen,
die so unerträglich sind, daß man nicht einfach weiter
mitmachen kann, ganz gleich, was dann geschieht, und auch ganz gleich,
was bei dem Versuch es anders zu machen, dann aus einem selber wird.'
Er hat mir das ohne jeden Pathos - und ich möchte sagen: auch
ohne jeden theoretischen Anspruch - gesagt, sondern einfach so, daß
er mir damit erklären wollte, was ihn zu dem scheinbar Absurden
jener Aktion am 20.Juli bewog. Ich glaube, genau dieses Moment des
Widerstandes ..., das ist genau der Punkt, an dem die Irrationalität,
oder lassen Sie mich sagen: das irrationale Moment des moralischen
Handelns zu suchen ist, wo es lokalisiert ist." (Adorno1997: 19)
Für unsere Überlegungen zum "moralischen Impuls"
bedeutet dies: Schlabrendorff, der am Bombenattentat auf Hitler
teilnahm, begründet seinen Widerstand nicht im Rückgriff auf
einen moralischen Code. Er bietet keine Regel an, die sein moralisches
Handeln rechtfertigt, sondern leitet sein Handeln vielmehr von dem "irrationalen
Moment" her, "einfach nicht mehr mitmachen zu können",
"weil die Situation unerträglich ist". |