Interaktionistischer Konstruktivismus
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Kersten Reich
Humanwissenschaftliche Fakultät
Erziehungs- und Sozialwissenschaften
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Kersten Reich
last update: 02.09.2007 11:43
 
 
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Einige Gedanken die man sich machen sollte: bevor man Pädagogik zu studieren beginn pdf-symbol ( 187 KB )

Beginnen wir mit einem Beobachter-Statement über die Moderne. Die moderne Gesellschaft, d.h. die Gesellschaft, die auf Industrialisierung, Arbeits- und Funktionsteilungen in der Lebenswelt, auf der Trennung von Hand- und Kopfarbeit, auf der Normierung und Codifizierung rechtlicher, ökonomischer, politischer und sozial-kultureller Lebensformen sich aufbaut, erscheint als eine ungeheure Warenansammlung. Dies macht auf den ersten Blick wohl den größten Unterschied zu sogenannten frühen Kulturen der Menschheit aus. Überall werden Waren produziert, und sie treten zwischen die Menschen, sichern das Überleben sichern und werden zum Überleben und Leben hergestellt, gebraucht und ver- und gekauft. Wir leben nicht von der Hand in den Mund, wir produzieren und reproduzieren uns nicht direkt und unmittelbar in überschaubaren Lebensformen, sondern interagieren und kommunizieren in langen, fast unüberschaubar gewordenen Handlungsketten(2), die die Arbeit, den Besitz, die soziale und persönliche Lebensweise umschließen. Erscheint die bürgerliche Gesellschaft, wie Karl Marx am Beginn seiner ökonomischen Analyse der Moderne, dem "Kapital", formulierte, als ungeheure Warensammlung, so ist der Eintritt für einen Studenten in die heutige Universität ebenso von solcher Modernität geprägt: Jedes Fach weist eine ungeheure Sammlung von Theorien und Theoremen - Bruchstücken von Theorien - auf, wobei ähnlich der Aufmachung in den Waren- und Supermärkten der Neuzeit zunächst wenig Kriterien zur Verwendung der einen oder anderen Sorte bekannt sein mögen, außer daß die jeweilige Verpackung der Farbe, Form und handlichen Größe nach ansprechender oder abstoßender wirkt.(3) Hier haben wir wieder unseren bereits geschilderten Eindruck von der Unübersichtlichkeit z.B. der Bibliothek, nur daß in dem jetzt gewählten Bild die Verlockungen der Waren vordergründig gepriesen werden. Es ist ein Verlust: Wir haben die Sicherheit der gängigsten Waren verloren, wir müssen uns auf Moden, auf Sonderangebote, ggf. auf Ladenhüter und Raritäten einstellen. Haben wir auch einen Gewinn hierbei zu verzeichnen?

Im Übergang von den stark reglementierenden und reglementierten absolutistischen Gesellschaftsformen hin zu demokratisch orientierten Gesellschaften der Neuzeit haben sich etliche Veränderungen ereignet, die bedeutsam für die Gewinnung relativer Autonomie der Individuen sind. Eine Verschiebung von den Fremdzwängen in Herr-Knecht-Verhältnissen zu sachlicheren Formen der Abhängigkeit ist mit dem Fortschreiten des Kapitalismus durchgängig erkennbar. Um zu bestimmten Zielen zu gelangen, ist eine Zunahme der erforderlichen Langsicht der Gesellschaftsmitglieder im Blick auf ihre Handlungsketten, auf die Bedeutung und Bedeutsamkeit bestimmter vorbereitender Handlungen immer unabweisbarer geworden. Die gewonnene und propagierte Freiheit des Menschen - und dies ist unser Gewinn - korrespondiert dabei mit einer Zunahme an Selbstzwängen, um diese Freiheit in den Interaktionen und Kommunikationen lebbar zu halten. Und dieser Gewinn ist auf der individuellen Seite nicht zu verachten: Ein Studium erscheint als große Freiheit, was seinen Reiz ja auch ausmacht, um aber zugleich auf ein anderes Gesetz der Moderne zurückgeworfen zu werden: den Markt. Ein Studium, und das ist die Kehrseite der Freiheit, ist auch die Freiheit jener anderen, die als Masse meine Freiheit stark behindern werden. Und nach dem Studium drängeln wir uns auf dem Arbeitsmarkt.

Die Professoren hingegen sehen diese Freiheit ohnehin von Anfang an skeptisch. Sie haben sich schließlich lange genug in sie eingenistet, um von jenem Widerspruch eingeholt zu werden, der in der Unendlichkeit der Wissensvorräte selbst lauert: Hier empfindet man nämlich über kurz oder lang den Widerspruch zwischen der Aneignung des bisherigen menschlichen Fortschritts und Wissens, sozusagen die phylogenetische Basis der Menschheit, und seinen eigenen, gegenüber der übrigen Menschheit immer begrenzten Möglichkeiten, also seiner ontogenetischen Realisation, als ernüchternden Schock. Je länger man studiert, desto schlauer scheint man zu werden, um doch die Unmöglichkeit eines sicheren Wissens nur immer deutlicher zu erkennen. Hier mag ein wesentlicher Grund der Resignation vieler Studenten - aber auch Professoren - insbesondere der Geisteswissenschaften liegen, die ein sehr ineinanderfließendes und wenig exakt abgrenzbares Wissen angehäuft haben, was schier unendliche Abarbeitungsbemühungen beinhaltet. Irgendwann resigniert man an der Vielfalt und hält die Dinge hoch, die man begriffen glaubt. So bleibt man wundersam in einer fließenden Zeit stehen. Der Fluß selbst könnte aber auch, positiver gesehen, gerade Grund für eine Neugier sein, die zwar weiß, daß sie nicht alles erschließen kann, die aber in dem Labyrinth sich eigene Wege sucht, um zu unbekannten Ausgängen zu finden.

Doch dies ist schon eine sehr kritische Position, die nicht unbedingt bereits im ersten Semester vermittelt wird. Auch Wissenschaftler, sie hören dies allerdings nicht gern, sind als Wesen der Moderne Wesen eines Marktes, wo um Scheine gehandelt wird. Keine wissenschaftliche Karriere ist ohne Austausch solcher Scheinhaftigkeiten möglich: Finde ich deine Theorie gut, findest du meine Arbeit gut. Kritisiere ich unsere Feinde, dann bin ich dein Freund. Die noch so ehrenhaft und neutral erscheinende Wissenschaft besteht ebenso wie alle anderen Firmen und Institutionen der Moderne schließlich nicht zu einem reinen Selbstzweck, auch wenn manche sie gerne so sehen würden. Aber welches Individuum kann schon von reinen Selbstzwecken leben? Blicken wir auf dieses Individuum, also auf uns selbst, dann ist die Bedeutsamkeit der Warensammlung nicht von der Hand zu weisen: Niemand studiert zu einem bloßen Selbstzweck, denn ein jedes Selbst und ein jeder Zweck sind in einer funktionsteiligen, warenproduzierenden Gesellschaft mit den Sphären anderer Menschen und ihrer Zwecke verflochten - auch wenn dies nicht immer bewußt geschehen mag.

Wechseln wir also die Beobachterposition. Treten wir noch einmal aus der Universität heraus und gehen wir auf einen beliebigen Markt der Moderne. Was können wir beobachten? Da werden Waren angeboten und verkauft, angenommen und gekauft. Gewinne und Verluste erscheinen. Aber sehen wir genauer hin: Die Menschen unterscheiden in ihren Beobachtungen auf diesem Markt sehr klar zwischen dem, was sie von der Ware nutzen wollen, d.h. wie sie sie gebrauchen, und was sie kostet. Die Unterscheidung eines Gebrauchs- und Tauschwerts einer Ware kann uns vielleicht als Beobachterposition helfen, uns dies für uns selbst und die Ziele unseres universitären Studiums näher zu bestimmen. Lassen wir uns also auf ein Sprachspiel ein, indem wir ein trivial erscheinendes Marktmuster der Moderne auf die hohen Erwartungen wissenschaftlichen Studierens anwenden.

Der Gebrauchswert einer Ware gibt ihren Nutzen für mich an, das Realitätsprinzip, das in ihr steckt und mich dazu bringt, Bedürfnisse zu stillen und zu befriedigen. Diese Befriedigung finde ich im Gebrauch, was meist ein Aufbrauchen der Ware bedeutet, bei bestimmten Waren auch einen wiederkehrenden befriedigenden Genuß

Demgegenüber ist der Tauschwert ein Mittel zum Zweck, ein interaktiver Nutzen, wenn man so will, der sich real über bestimmte Äquivalente - vor allem Geld - vollzieht, dem aber auch Äquivalente des Denkens entsprechen können. (4)

Was nun ist der Gebrauchswert eines Studiums? Diese Frage ist gar nicht so leicht zu beantworten. Schließlich läßt sich Wissen und Wissenschaft nicht einfach konsumieren, indem ich alles in mich hineinfresse, obwohl manche Studienanfänger so tun, als ob dies eine Lösung sein könnte. Entsprechend dem Denken im Kapitalismus rückt für pragmatisch orientierte Geister hier auch bereits der Tauschwert nach vorne, weil sie sich vom Studium erwarten, einen gut bezahlten Arbeitsplatz zu erhalten, ihren gesellschaftlichen Status zu erhöhen, in der versachlichten Hierarchie der Gesellschaft aufzusteigen, um es sich besonders gut gehen zu lassen, den Wert der eigenen Person dadurch zu steigern, daß ihr Wert auf dem Arbeitsmarkt ihnen mitteilt, welchen Wert sie eigentlich haben.(5) Nietzsche wies mit Grund darauf hin, daß gegenüber all den bürgerlichen, hochtrabenden Phrasen des Guten im Hintergrund des Begriffes gut immer seine Ableitung aus dem Landgut, dem Hof, dem Besitz steht.(6) Hier mischt sich das Profane in die vermeintlich reinen Theorien mit ihrem Wunsch nach gutem und wahrem Wissen ein. Und wer dem Tauschwert verfällt, der scheint für die reine Wissenschaft verloren. Aber wo gibt es sie denn, diese reine Wissenschaft? Auch der Gebrauchswert des Studiums erscheint als eine gewisse Mischung, je individuell unterschiedlich akzentuiert, zwischen Wissensaneignung, -verwendung und Wissenstransfer oder -abwehr bis hin zu den imaginierten oder realen Tauschwertverhältnissen.

Und was ist der Tauschwert eines Studiums genauer? Wer Geisteswissenschaften studiert, hat in der Regel scheinbar bereits Verzicht geübt, er ist gewollt oder ungewollt in eine Sphäre gerutscht, die der Gesellschaft bloß Kosten verursacht, ohne in ihrem Nutzen direkt erkennbar oder bemessbar zu sein. Sein Tauschwert unterliegt damit stärker dem berechnenden Kalkül von jenen, die auf der produktiven, direkt produzierenden oder konsumierenden Seite der Gesellschaft stehen und damit ökonomische und politische Macht vereinen und verwalten. Bei jeder finanziellen Krise der Gesellschaft werden zunächst die unproduktiven bzw. unproduktiv erscheinenden Seiten des gesellschaftlichen Systems hervorgehoben und der Rotstift der Kürzungen und Beschneidungen setzt hier - das ist die Erfahrung zumindest unseres Zeitalters - als Erstes an. Dennoch scheint der hier erwerbbare Tauschwert immer noch höher, gesellschaftlich anerkannter zu sein als in jenen produktiven Sphären der Lohnarbeit, wo die Arbeit verdinglicht, an die Maschine gefesselt, an den Zeittakt der Industrie gebunden wird.

Nun haben wir eine Beobachterposition eingeführt, mit der sich Fragen an jedes Studium stellen lassen. Zu Beginn eines Studiums sollte man sich unbedingt fragen, welche Gebrauchs- und Tauschwerte man erwartet. Und auch wie diese beiden Ebenen zusammenwirken.

Gerade deshalb beginne ich mit der Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert, weil sich hier eine Brüchigkeit zeigt, die ich thesenartig - als Aufforderung zur Selbstreflexion - festhalten möchte. Dazu stelle ich folgende vier Thesen auf:

1) Jeder Mensch denkt sich seine eigene gedankliche Wirklichkeit, seine Wirklichkeit ist eine Konstruktion, bei gleichzeitiger Rekonstruktion seiner Herkunft, der Herkunft seiner bisherigen Konstruktionen.
Das Dumme hieran ist, daß solche Prozesse nicht immer bewußt vor sich gehen, sondern unbewußt, unterschwellig bleiben können.
Meine abgeleitete These lautet: Machen wir uns möglichst auf jeder Stufe unseres Lebens deutlich, was wir konstruieren oder rekonstruieren wollen.
Was bedeutet dies für die Gebrauchswertseite eines Studiums? Was erwarte ich also für meinen individuellen Gebrauch, für meinen persönlichen Nutzen, für meine Perspektiven, wenn ich studiere?
Zunächst ist es sicher sinnvoll, rekonstruktiv an diese Frage heranzugehen. In der Rekonstruktion kommen mir vielleicht folgende Fragen: Wie komme ich hierher? Warum studiere ich Geisteswissenschaften? Dies ist die erste Rekonstruktionsaufgabe, die sich mir stellt. Daraus lassen sich viele mögliche Einzelfragen entwickeln, etwa nach Vorbildern, die mich leiten, nach Erwartungen, die ich bezüglich persönlicher Bedürfnisbefriedigungen habe, nach meinem Ego und Narzißmus, nach gesellschaftlichen Zuschreibungen gegenüber bestimmten Berufen und Rollen usw.
Aber für etliche mag diese erste Fragehaltung nicht ergiebig sein. Vielleicht ist die eigene Wahl auch zu unbewußt, zu undeutlich, zu widersprüchlich. Oft erscheint die Wahl als eine Wahl mangels Alternativen, was allerdings auch bereits etwas über den Gebrauchswerthorizont aussagt. Ganz gleich, ob uns die Rekonstruktionsfrage hilft, mit den eigenen Erwartungen gegenüber dem Gebrauchswert unseres Studiums voranzukommen, als erste Konstruktionsaufgabe stellt sich: Was mach' ich nun, wenn ich schon einmal hier bin? Spätestens hier stellt sich wieder die Frage nach dem Gebrauchswert, den jeder für sich definieren muß, um seine Veranstaltungen, Schwerpunkte, Literatur usw. auszuwählen.
Die Antworten auf diese Gebrauchswertfragen werden sehr unterschiedlich ausfallen. Es sind Konstrukte der je eigenen, singulären, lokalen Wirklichkeit all derer, die sie sich beantworten wollen.
Und was kann ich, als Autor, diesen möglichen Antworten zur Seite setzen? Welche berechtigten Forderungen kann ich anmelden? Da erscheine ich dem aufmerksamen Leser schon in einer Falle, denn auch meine Antwort in einem Zeitalter des nachmetaphysischen Denkens, der neuen Unübersichtlichkeit, der Unschärfe der Wissenschaften kann nicht als universelles und ewiges Wahrheitskonstrukt mehr gelten. Gleichwohl aber behaupte ich hier z.B. den Sinn einer bestimmten Beobachterperspektive: »Frage nach deinen Gebrauchswerterwartungen des Studiums«. Und es wird hierbei nicht bleiben. Ich werde zugleich eine Forderung aufstellen: »Wenn wir schon einmal hier sind, dann sollten wir versuchen, das für uns Beste aus unseren Konstruktionen zu machen«. Das aber können wir nur, wenn wir wissen, wozu wir überhaupt etwas konstruieren wollen.
Hier nun sind wir an einem Scheideweg, der durch die Moderne und den Kapitalismus selbst eingeführt wurde. Die Frage »wozu« verquickt sich in unserem Zeitalter immer mit der Erwartung eines Tausches: Wenn ich etwas tue, dann erwarte ich, das etwas für mich getan wird. Solche Tauschwerterwartungen dominieren mittlerweile auch bei vielen Studenten die Gebrauchswerterwartungen. Daraus aber entstehen völlig andere Fragen: Welche Tauschabstraktionen leiten mein Hiersein? Sind es Hoffnungen aufs Lehramt, um eine sichere Stelle zu bekommen? Oder Hoffnungen als Diplompädagoge wider Erwarten doch eine Stelle zu bekommen? Erwartungen an gutes Geld und viel Freizeit? Oder wenig Geld und viel vermeintliche Freiheit? Oder bestimmt mein Hiersein das Warten auf den Lebenspartner? Oder tausche ich die Zeit hier als ein Parkstudium in Hoffnung auf ein anderes Studium oder überhaupt ein anderes Leben ein? Oder bestimmt mich, da ich Pädagoge werden will, ein Helferideal, weil ich vielleicht meine, vieles besser als andere machen zu können?
Beobachten wir diese oder mögliche andere Fragen des Tauschens genau! Was geschieht? Hier rückt ein anderer Mechanismus vor den Gebrauch, vor die zwar zugegebenermaßen unübersichtlichen und widersprüchlichen, aber eben doch insgesamt irgendwie zu gebrauchenden wissenschaftlichen Erwartungen. Von diesen ist jetzt nicht mehr die Rede. Vielmehr wechseln wir die Position in eine Erwartung nach Sicherheit, Geld, Freizeit, Freiheit, vielleicht nach Hoffnungen und Wünschen nach noch Unbekanntem. Vielleicht auch, wie beim Helferideal, an einen Maßstab des Besserwissens, den wir eintauschen wollen, um als besonders guter Mensch zu erscheinen. Solch ein Eintausch ist besonders gefährlich, weil unter dem Mantel des Helfens immer auch eigene Machtansprüche verpackt sind - wahrscheinlich haben wir alle etwas davon, wenn wir Geisteswissenschaften für Lehrämter, Pädagogik, Psychologie, Philosophie oder Sozialwissenschaften studieren. Ich für meinen Teil wollte besser als die meisten meiner Lehrer werden. Warum eigentlich will ich besser als andere sein? Und: Wer soll bemessen, ob ich besser bin?

Die erste These mit ihren Fragen mag helfen, uns über unser eigenes Wollen besser zu informieren. Unsere möglichen Antworten enttarnen (dekonstruieren) unsere konstruktiven Entwürfe (= das, was wir so sicher wähnten) und unsere rekonstruktive Herkunft (= das, was als so klar und selbstverständlich von uns erwartet erschien). Die Antworten dekonstruieren damit aber auch meine These, denn sie zeigen auf, daß wir, wenn wir in solchen Antworten angekommen sind, bereits woanders sind. Dies leitet auf den nächsten Gedanken über, denn die Bedeutungen solchen Woandersseins hängen von uns ab:

2) Jeder Mensch ist frei, sich für oder gegen etwas zu entscheiden, aber diese Freiheit wird doch nie vollständig erreicht.
Meine abgeleitete These lautet: Machen wir uns klar, wo wir frei sind, etwas zu können
Besonders ergiebig kann dies im Blick auf das Studium für die Gebrauchswertseite erscheinen: Die Freiheit des Studierens gegenüber dem Beruf ist nicht zu verleugnen. Besonders in den Geisteswissenschaften erscheint jenes ominöse "anything goes" (Paul Feyerabend), aber meist leider mehr imaginär und weniger symbolisch.(7) In den bildhaften Vorstellungen könnte man sich so vieles ausmalen, aber die symbolischen Studienordnungen zwingen nach anderen Regeln als denen der vermeintlich freien Wissenschaft zu einem Selbstzwangverhalten, das dort am meisten Zeit investieren heißt, wo die Scheine - unabhängig von der Qualität der Forschung und Lehre - besonders schwierig zu erwerben sind. Die Suche nach Symbolik zieht sich durch die Semester: Gehe lieber dorthin, wo du formal etwas mitnehmen kannst, so lautet die Verschiebung der Kreativität hin aufs Scheinesammeln oder die angepaßte Prüfungsvorbereitung. Und das »Studium generale«? Die Allgemeinbildung, die eine Universität vermitteln sollte? Sie führt zurück auf den selbst erwählten Gebrauchswert: Wie tief will ich überhaupt etwas konsumieren, von dem mir allenfalls meine Imagination sagen kann, wozu ich es einst gebrauchen könnte. Vielleicht ist es sogar so, daß das, was man eigentlich nie braucht, weiter führt als das, was gleich nach Praxis riecht.
Solche Symbolik zwingt uns oft, die eigenen Hoffnungen zu verschieben: Als Schieben von der Realität in die Utopie, von der Ordnung der bürgerlichen Welt in die Unordnung einer - immer noch - bürgerlichen Studentenwelt usw. Wir brauchen solche Verschiebungen, um unsere Hoffnungen zu bewahren, uns noch imaginieren zu können, daß es auch ganz anders gehen könnte, aber wer nicht die Bruchstellen zur Realität erkennt, der verliert mitunter den Kontakt zur Konstruktion der Wirklichkeit, so wie die Masse der Anderen sie sieht. So werden die möglichen Antworten brüchig: Wieviel Imaginäres darf ich mir leisten, wenn ich doch "ordentlich studieren" soll? Meine Imaginationen sind stets von der übermächtigen Symbolik der Prüfungsfächer bedroht.
Das Thema von Imaginationen ist aber auch die Verdichtung, das Dichten einer Welt, die Bild- und Dinghaftmachung in Symbolik, neuen Begriffen, fremdartiger Sprache, mitunter Dichtung, meistens Fachjargon; dies ist die Isolationshaft Universität, um die andere uns beneiden und die wir fürchten, wenn wir erst einmal begriffen haben, mit was für Stacheltieren wir es hier zu tun bekommen können. Arbeitet es sich nicht leichter zu zweit, zu dritt, im Team? Dies bleibt hier der Eigeninitiative vorbehalten - meist endet sie sehr schnell, weil der Gebrauchswert Zeit etwas im Studium ist, das keiner preisgeben will. Zeit zu verlieren, das wäre eine Maxime, die in der Universität wie allgemein überhaupt in der Erziehung gar nicht ernst genug genommen werden kann.(8) Aber diese Maxime bedeutet nicht, ewig im Rahmen der Hochschule zu studieren, sondern sich für das Studium eine begrenzte Zeit - dies aber intensiv - wirklich zu nehmen, die ein späteres - eigenes - Weiterstudium in anderen Bezugskreisen nicht ausschließt, sondern vorbereiten hilft. Will ich mich vorbereiten, so gehört der Verlust von Zeit notwendig dazu. Aber kann ich solche Verluste ertragen, wenn ich in einer Kultur lebe, die mir die Maximierung von Zeit als ständige Zunahme von Geschwindigkeit meiner Aktionen suggeriert? (Virilio 1993) So sitze ich oft gefangen in den multimeialen Ablenkungsangeboten, die in Lichtgeschwindigkeit in einem Nebeneinander gesendet werden, um in mir Zwänge zu produzieren, bloß keine Zeit zu verlieren und alles gleichzeitig anschauen zu müssen. Je mehr ich sehe, desto weniger blicke ich durch.
Die Freiheit des Nachdenkens, dies ist zunächst immer Freiheit der Zeit. Zumindest der Zeiteinteilung. Dies kehrt später so schnell nicht wieder. Aber die vielen Nebenjobs, um sich Urlaub und Auto zu finanzieren, oder die Finanzierung überhaupt, dies ist der Zeittakt der modernen Gesellschaft, der nach oder vor dem Denken kommt, es aber meist bis zur Vernichtung behindert. Man müßte als Professor das Studium beginnen können, dann hätte man die Zeit, es auszuprobieren. Oder als Adliger wie im 19. Jahrhundert. Aber hätte man auch die Lust, sich den Zwängen des Lernens auszusetzen? Was ist das für eine eigenartige Lust, die Leute zu Wissenschaftlern und Studenten zu wirklich Studierenden werden läßt?
Bei solcher Frage nach Lust beginnen sehr oft Tauschwertüberlegungen einzusetzen, denn alle Lustklischees der Gegenwart können sich eine Verausgabung von Zeit für eine Kunst um der Kunst willen nicht mehr vorstellen: Deshalb handhabt die Gesellschaft die vermeintliche Freiheit der Universität ambivalent. Während des Studiums mit Skepsis - die haben so viel Zeit -; nach dem Studium mit nicht selten geübter Schadenfreude und Entwertung in bestimmten Fächern, besonders in geisteswissenschaftlichen. Da kann man sich dann Kommentare anhören, daß es ja wohl nicht gelohnt hätte, so lange zu studieren. Und dies spiegelt sich zunehmend auch allgemein in Veränderungen gesellschaftlicher Erwartungen wider: Status, Geld, Sicherheit, Freiheit, Freizeit usw. sind nicht mehr allein durch ein Studium sicher gewährleistet. Dies regelt schon Angebot und Nachfrage. Die Massenuniversität hat sich selbst ihrer Tauschwertsicherheit beraubt. Dabei ist der Tauschwert von Geisteswissenschaftlern besonders entwertbar: Die geleistete Arbeit erscheint als unproduktiv, weil mit ihr nicht direkt materiell sichtbarer Reichtum erwirtschaftet werden kann. Die Leute verzehren nur Steuergelder, so heißt es dann, sie leben von dem, was Handarbeiter erst schaffen müssen, sind nicht sehr rentabel oder eben nur fiktiv rentabel, und solche Fiktionen, die nach einem Bildungsbürgertum rufen, wo Gebildetheit über das Geld gestellt wird, die sind anachronistisch geworden. Bei den Lehrern und Erziehern kommt hinzu, daß sie immer Ordnungshüter bestehender Wirklichkeiten sind, sich mit knappen Mitteln und nervösen Kindern herumschlagen müssen, was das Ansehen ihrer vermeintlichen Freiheit, das einen hohen gesellschaftlichen Status implizieren könnte, zumeist ins Gegenteil verkehrt. Aber auch hier gibt es ganz andere Beobachterstandpunkte: Von den Betriebswirtschaftlern und anderen vermeintlichen Insidern des Marktes verspottet, so ist man von den Arbeitern her gesehen immer noch was Besseres.
Je mehr wir solche Assoziationen wandern lassen, desto mehr erscheint das, was wir nicht können! Weder Gebrauchs- noch Tauschwert weisen uns auf das Außergewöhnliche hin, was uns Texte aus der Antike suggerieren oder Bildungsidealisten des 19. Jahrhunderts propagieren. Freiheit? Die Gedanken immerhin sind frei! Aber sie allein haben es meist nicht sonderlich weit gebracht. Doch ohne sie? - da läuft gar nichts mehr!

Damit kehren wir zur Ausgangsthese zurück: Wir sind immerhin frei, uns für ein möglichst hohes Maß an Freiheit zu entscheiden. Je mehr wir auf die Unmöglichkeit solcher Freiheit blicken, desto weniger werden wir tun. Dann erscheint die sich selbsterfüllende Prophezeiung (vgl. dazu genauer Kapitel 2), daß wir doch nichts verändern können. Aber selbst wenn dies so wäre, selbst wenn wir wie Sysiphos immer aufs neue einen Stein den Berg hinaufrollen, um ihn dann wieder herunterfallen zu sehen, so mag es die Lust auf unsere Freiheit sein, die uns etwas Hinaufschaffen läßt, von dem wir nicht wissen, wie lange es uns die Gunst auf die bessere Aussicht gewährt. Und wir müssen ja nicht gleich mit den größten Steinen beginnen, die wir aus dem Weg schaffen wollen.

3) Keiner kann alles!
Meine abgeleitete These lautet hier: Machen wir uns klar, was zu uns paßt, was wir wollen!
Aber, wenn wir an den Gebrauch im Alltag denken, solche Freiheit ist anstrengend, denn sie erfordert Arbeit. Sie setzt voraus: Die Rekonstruktion von These 1: Warum bin ich überhaupt hier? Was will ich? Dann aber auch: Was kann ich? Das Dilemma der Überforderung: Sind wir durch den Eintritt in die Universität nicht bereits erschlagen durch das Wissen der Anderen? Ist die Bibliothek nicht ein unheimlicher Ort, weil in ihr eine Unübersichtlichkeit, ein Chaos der Gedanken, eine Gegensätzlichkeit mit heimlichen Klammern des Gemeinsamen lauert, die nur Eingeweihte durchschauen? Und wer sind jene Eingeweihten?
Von manchen Professoren heißt es, daß sie den Durchblick haben. Aber wer je, wenn er ihn nicht auch hat, soll dies überhaupt beurteilen? Die Überforderung kann anregen, sich nicht alles gefallen zu lassen. Ihr Gegenpart, die Unterforderung, versucht uns hingegen einzuschläfern. Das Dilemma der Unterforderung: Wer jetzt stillhält, der verblödet im Studium. Von dem sagen die Prüfer hinter vorgehaltener Hand: Er kann immerhin vieles wiedergeben, auch wenn er nicht genügend selbst denkt. Aber können wir ihn deshalb durchfallen lassen? Nach so langen Jahren? Er ist jener Kandidat, der immer erwartete, gesagt zu bekommen, was er tun solle. Er hat nie begriffen, daß er nicht alles tun soll, aber selbst wissen lernen muß, was zu tun ist. Dies ist eine der wichtigsten Voraussetzungen des Studiums, die viele oft erst dann bemerken, wenn Jahre vergangen sind. Wenn es zu spät ist, dann kann man nur noch auf die Tendenz zur Milde bei den Prüfern hoffen.
Wie kann ich Über- und Unterforderungen vermeiden? Es geht darum, einheimische Orte zu finden, am Ende aber fehlt die Zeit. Als Beispiel möchte ich Studenten nennen, die mir nach bestandener Prüfung oft von ihren Erfahrungen erzählten. Nach dem Studium sagten sie, daß sie jetzt erst wüßten, wie sie studieren müßten. Warum erst jetzt? Haben sie denn nicht die Erfahrungen der älteren Semester genutzt? Und sie sagten auch, daß die Abschlußarbeit oder Klausuren oft zum Scheiterungsgrund jener wurden, die aus dem Studium ausstiegen. Schriftlich kann man sich nicht herausreden. Die Prüfer lesen viele Bücher, sie vergleichen, was sie lesen und in einer Massenuniversität beginnt erst hier ein Aufeinandertreffen der Erwartungen und der gezeigten Leistungen. Es ist schlecht an deutschen Universitäten, daß dies meist sehr spät, oft erst nach Jahren, geschieht. Aber in der Massenuniversität ist Unter- oder Überforderung ein individualisiertes Problem: ein Problem der Ver-ein-zelung des Studenten. Sollte er dann nicht alles tun, diese aufzuheben, wo immer es ihm möglich wird?
Es paßt nur das, was ich anprobiere. Hier ist es notwendig, zunächst mehrfach die Kleidung zu wechseln, bis man sich wohl fühlt. Und auch dann läuft man nicht täglich in den gleichen Sachen rum. Viele jedoch machen den Fehler, sich ihre Lehrer nach äußerlichen Sympathien auszusuchen, dann auch:
Sich zu wenig weiter umzuschauen. Dabei gilt als Grundregel vor allem im Grundstudium, mehr als notwendig und bei so vielen Hochschullehrern wie irgend möglich zu studieren. Gleichwohl kann dies sehr stark in manchen Studiengängen mit unserer Anforderung an den Gebrauch der Zeit kollidieren, zumal ein jeder Student im Studium unterschiedliche Eigenzeiten benötigt, um zu seinem gesetzten Ziel zu gelangen.
Betrachten wir auch hier die Tauschwertseite:
Triebunterdrückung und Triebaufschub führen - so heißt ein viel zitiertes psychoanalytisches Konstrukt - vermeintlich zu einem höheren Genuß, der in die Zukunft verschoben wird. Aber für Pädagogen ist dies eher ungewiß, denn wer will in einem Fach, das in den letzten Jahrzehnten massenhaft arbeitslose Akademiker produzierte, schon erwarten, daß er gesellschaftlich mit Anerkennung erwartet und empfangen wird. Aus diesem Umstand vor allem, so scheint mir, resultierte eine Sinnkrise nicht nur der Pädagogik, sondern der Geisteswissenschaften an den deutschen Universitäten. Sie greift mittlerweile auf immer mehr Fächer über. Zudem zerschellte ein Großteil des auf Veränderung drängenden Schwungs der Studentenbewegung und ihrer alternativen Nachbewegungen in der Massenuniversität. Und es ergab sich eine massenhafte Unterforderung, die bei vielen Studierenden im Kopfe, als eine Art selbsterfüllende Prophezeiung, sich breit machte: Wenn du schon so ein Fach studierst, dann solltest du eben auch nicht zu viel erwarten. Hier handelt es sich um eine Studierfalle, ganz ähnlich jener Beziehungsfalle, die in der Kommunikationstheorie von Watzlawick und anderen immer wieder beschrieben wurde: Ein Ehepaar argumentiert so, daß er sagt, daß er immer öfter in die Kneipe gehe, weil sie nörgle; sie sagt, daß sie nörgle, weil er in die Kneipe gehe. Hier nach Anfang oder Ende zu suchen ist genauso ergebnislos, als wenn man als Student die Schuldigen für die eigene Studienmisere herausfinden wollte. Nicht, daß sich keine Gründe dafür finden ließen oder finden lassen sollten. Aber nur eine Änderung - des zunächst eigenen - Handelns wird helfen können.
Damit aber bleibt als Lösung nur, sich der Tauschwertseite an dieser Stelle zu entfremden, den Tauschwert zu ignorieren, um über die Stärkung des Gebrauchswertanteils Hoffnungen zu gewinnen. So habe ich viele Studenten erlebt, die mit diesem Gebrauchswert später wuchern konnten, ihn in bare Münze verwandelten, auch wenn sich nicht alle Tauschwerthoffnungen immer befriedigen ließen.

Der Tauschwert erhält sich ohnehin nur, wenn ich realistisch und alltagsbezogen auf ihn sehe: Zunächst muß ich - egoistisch genug - in der Massenuniversität überleben. Ich muß die Themen suchen, die mich entschieden weiter bringen. Aber auch die Prüfer, die solche Themen letzten Endes prüfen. Und mich rechtzeitig mittels Praktika oder anderer außeruniversitärer Bindungen abstoßen von diesem Moloch Universität, der mir eine Geborgenheit und Existenz allenfalls auf Zeit in kleineren gewählten Gruppen und bei Vermassung nur widerwillig zugesteht.

4) Freiheit ist nicht beliebig, sondern unterschiedlich begründet.
Meine abgeleitete These lautet: Machen wir uns klar, was wir nicht wollen und begründen wir dies!
Mehrfach ist schon deutlich geworden: Die bisherigen Strategien positiven Wissens passen nicht mehr. Kein Lehrer sagt uns - zumindest keiner derjenigen, die ich für kompetent halte - was wir hier, in der Universität, behalten oder denken sollen. Jeder dieser Lehrer weiß, daß es zahlreiche Lösungen und nicht die eine Lösung in den Geisteswissenschaften gibt. Wir haben keinen Klassenverband mehr, keine stündlich wiederkehrende Zuwendung und begrenzte Wissensprüfungen. Ausgrenzung und Abgrenzung, Arbeit in die Tiefe, Modi der Übertragung des Gelernten, all dies bleibt ganz uns überlassen. Ob wir nun adäquat darauf vorbereitet sind oder nicht: Die Hochschule erwartet dies nach ihrem Selbstzweck, den sie sich nicht zu hinterfragen traut.
Dies hat auf der Gebrauchswertseite einen ungeheuren Vorteil, den man oft erst spät sieht: Hier bin ich frei, aber auch: Hier kann ich es sein! Allerdings ist die Freiheit mit einer Arbeit der Begründung erkauft. Ich habe die Freiheit der eigenen Begründung. Dies ist die genuine Freiheit der Wissenschaft, sie drückt sich an deutschen Universitäten in der Freiheit von Forschung und Lehre aus, aber auch in der Freiheit jedes Studierenden, der sie nutzen will. Nicht jeder Hochschullehrer wird sich gleichermaßen auf solche freien Diskurse einlassen, aber zwischen ihnen, gegen sie, mit ihnen wird der freie Diskurs als ein jeweils begründeter Diskurs möglich, ja sogar vielfach - besonders in den Geisteswissenschaften - erwünscht sein. Jeder Studierende kann hier sein eigenes Denk- bzw. Weltbild gewinnen, aber er sollte ebenso wie die Hochschullehrer vorsichtig genug bei seinen Begründungen sein, dies gewonnene Bild nicht als das einzig richtige zu behaupten. An solcher Freiheit kann man süchtig werden, weil sie umfassender als andere ist, sie unterscheidet sich als Schonraum der Grundlagenforschung radikal von jenen Interessen, die sofort einen Nutzen - oder Tauschwert - aus jedem Wissen ziehen wollen. Zwar mag sie manche Blüten hervorbringen, deren Stil uns abwegig erscheint, aber dies Abwegige zu tolerieren, sollte uns wichtig genug sein, wenn wir diese Freiheit überhaupt wollen. Der von uns erwartete Gebrauchswert, wenn er denn nicht nur unter dem Joch des Tauschwertes stehen soll, zwingt uns dazu, dies zu wollen. Es bedeutet dies ja auch nicht, die Verantwortung für die Anwendbarkeit des eigenen Wissens abzustreifen oder gegen die Welt ignorant zu werden. Aber wann immer eine ignorante Welt in diese Freiheit eingreifen will, werden wir gefordert sein, diese gegen den Absturz in reine Nützlichkeitserwägungen oder politische Konformität zu verteidigen.

Amöbenhaftes Lernen allerdings führt zu Verdauungsstörungen und Überfettung, es macht unbeweglich. Deshalb ist eine Auswahl der Nahrung vor die Fettsucht gesetzt. In den Geisteswissenschaften, so mein persönlicher Eindruck, üben sich die meisten Studierenden aber wohl eher in Magersucht, um der Unerträglichkeit der Freiheit zu entgehen, denn Freiheit heißt,

  • Begründungen zu finden und verteidigen zu können.
  • Arbeit als: lesen, lesen, lesen und als schreiben, schreiben, schreiben! Von einem Sportler erwarten wir keine Leistung, wenn er nicht trainiert; von einem Handwerker kein Resultat, wenn er sein Handwerk nicht übt; Studierende der Geisteswissenschaften warten hingegen oft auf das Wunder einer einmaligen Erleuchtung.
  • Kommunikation als Diskussion, Streit, Auseinandersetzung, aber auch immer Weiterentwicklung um das, was hier begründet und gearbeitet wird.
  • Handlungen erreichen, weil die Imaginationen über Praxis immer anders sind als die Praxis.

Da die Geisteswissenschaften, insbesondere aber die Pädagogik und Psychologie, Wissenschaften über menschliches Verhalten und Beziehungen sind, ist ihre Praxis immer der Umgang mit Menschen, was Freude am Kontakt, Spaß an der Vielgestaltigkeit und Widersprüchlichkeit des Lebendigen voraussetzt, aber weniger geeignet ist, solcherlei Voraussetzung bei den Studierenden erst zu erzeugen.

Die Tauschwertseite kann allerdings gerade hier negativ eingreifen. Aber sie ist nicht zu verleugnen, denn sie macht sich geltend: Wer bezahlt eigentlich diese Freiheit? Hier mag man an das alte Dilemma der Privatdozenten erinnert sein: Ihnen konnte nur eine Erbschaft oder die Gewährung eines Unterhalts Voraussetzung einer unbegrenzten Freiheit werden. Auch in einer Wohlstandsgesellschaft wie der unseren sind hier die Chancen sehr ungleich verteilt. Obwohl die Studentenzahlen sich rasant erhöht haben, so ist im Verhältnis der Anteil studierender Arbeiterkinder gesunken. Darüber spricht man aber kaum noch, weil der Kapitalismus der 90er Jahre die Devise vertritt, daß offensichtlich jeder mit sich selbst klar kommen muß. Insoweit aber gibt es neue Bildungsprivilegien: Diejenigen, denen die Eltern das Studium voll bezahlen, können es sich scheinbar leisten, mehr Zeit zu verlieren, um Gebrauchswert für sich zu gewinnen. Allerdings wird dies immer dann problematisch, wenn die finanzierenden Eltern mit sozialer Kontrolle Druck ausüben, weil sie die Maxime, Zeit zu verlieren, in die Maxime eines schnellen Abschlusses verkehren.
Diejenigen, die mit der gesellschaftlichen Standardisierung des Minimums (BAföG) oder eines hohen Eigenanteils von Jobs, um sich zu finanzieren, studieren müssen, haben immerhin den Vorteil, eher sich selbst kontrollieren zu können, wenngleich der Schuldenberg am Ende des Studiums abschreckend wirkt.
Tauschwerte erhöhen sich durch gute Noten, das ist die Hypothese einer Leistungsgesellschaft, aber darauf gibt es keine Garantie, das ist die Marktrealität. Insoweit ist die Ware Studium ein Scheinprodukt im doppelten Wortsinne: Zeugnis und Idealisierung. Gerade darin mag aber auch ein besonderer Reiz liegen, denn die Vielfältigkeit der Möglichkeiten des Tausches ist im Kapitalismus sehr groß; und von der Existenzangst der Menschen in der sogenannten dritten Welt sind wir deutlich entfernt.

Diese vier Thesen mit ihren Widersprüchen zwischen Gebrauchs- und Tauschwertseite zeigen einen hohen Eigenanteil, eine starke individuelle Autonomie, die in unserer Kultur dem Prozeß des Studierens zugestanden sind. Wir erwarten, daß hier jeder seinen Weg findet. Aber uns bleibt das Staunen vor dem anderen, der uns als fremd, uns entfremdet erscheint, weil er all das, was wir erleben, so anders verarbeitet. Sehr subjektiv sehe ich zwischen den sehr individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten immer wieder drei typische Formen im Umgang mit der Pädagogik im Studium. Es sind dies sozusagen Schablonen, die als Typologien helfen mögen, den eigenen konstruktiven Weg zu unterscheiden oder den hier aufgestellten zu bekämpfen - beide Male hilft dies zur Klärung der Beobachterstandpunkte:

Typ 1) Identifikation im Sinne der Annahme oder - mehr oder minder begründeten - Ablehnung. Beide Strategien werden im Spannungsfeld zwischen Minimalisierung und Maximalisierung betrieben.
Die maximalen Identifizierer gehen im Fach selbst auf, sie werden schnell zu Fachidioten und rekrutieren gerne den Nachwuchs der jeweiligen Disziplin. Die Ablehner hingegen versuchen immer wieder das Fach zu verstören, es auf seine Defizite hin zu befragen, vielleicht weil sie ein grundsätzliches Unbehagen an jenem Hang der Pädagogik verspüren, mit irgendwelchen Maßnahmen normativen Erfolg zu sichern. Dennoch bleiben sie mit den Fragestellungen des Faches identifiziert, sie wollen aber alternative Lösungen. Wird gegen sie gearbeitet, so beraubt sich das Fach seines eigenen kreativen Nachwuchses.

Die minimalen Identifizierer finden das Fach ganz gut, aber sie wollen es mit möglichst geringem Aufwand durchlaufen, meist weil sie in ihren anderen Fächern Interessen oder hohe Pflichtstunden haben. Die minimal operierenden Ablehner finden das Fach eher schlecht, aber ihnen lohnt der Aufwand einer näheren Beschäftigung nicht, sie suchen sich andere Fächer und Interessen. Auch sie identifizieren sich mit pädagogischen Kontexten und Fragestellungen, aber nicht mit pädagogischen Theorien.

Typ 2) Wenn die Identifikation abgewehrt wird, dann findet sich oftmals eine Regression. Ein Bild solcher Regression ist die Rückkehr zu allein zugestandenen eigenen Erfahrungen, die gleichsam das Studium ersetzen oder aufheben sollen, weil die Vielfalt und Theorielast als unerträglich erscheint. Diese Regression bedeutet das Zurückfallen auf ein niedriges Theorieniveau, d.h. sie fordert besonders häufig einen Hang zu trivialisierter Fachliteratur im Sinne von Ratgebern, Rezeptbüchlein, Welterklärungen heraus, die meist unkritisch benutzt werden. Es kann aber auch als Hintergrund schlichte Faulheit konstatiert werden, wobei diese die Unerträglichkeit mühseliger Studien abwehrt und sich in einer meist selbstgestrickten Theorie ihre vermeintlich rationalen Gründe schafft.

Typ 3) Eine andere Strategie ist das Ausweichen. Die Mehrzahl der Ausweicher sind nicht die bewußten Ablehner der ersten Gruppe, die sich ja immerhin noch mit pädagogischen Fragestellungen beschäftigen. Hier sind vielmehr vor allem Studenten zu finden, die eigentlich Psychologie oder ein anderes NC-Fach studieren wollten, aber wegen ihrer Noten in einem pädagogischen Studiengang gelandet sind. Aber es gibt auch andere Teilgruppen, die aus der Vorliebe zu bestimmten Fächern den Fragestellungen des Hauptstudienganges gerne ausweichen. Der früher typische Ausweicher war der Fachidiot, der bewußt durch die universitären Strukturen gefördert wurde und mit Pädagogik gar nichts anfangen konnte. Heute folgt das Ausweichen sehr oft rein organisatorischen Gesichtspunkten in der Massenuniversität: Wegen Prüferüberlastung, hohen Seminarfrequenzen usw. baut sich der heimliche Lehrplan des leichtesten Ganges durch das Chaos auf, dessen wahre Hintergründe immer nur die jeweils Eingeweihten für kurze Zeit durchschauen.

Diese Typen gelten nicht nur für Studenten, sondern auch für Professoren. Hier muß ich die eigene professorale Sicht dekonstruieren. Hochschullehrer lieben es nämlich, die Krise der Pädagogik als Krise der Studierenden hinzustellen, obwohl es gerade auch ihre Lehrkrise ist. Nach Typ 1 wird die Krise der Lehre besonders dadurch gefördert, daß die einen zu eng in ihren Theorien stecken, so daß kaum noch Praxisrelevanz erkannt werden kann, und andere der Pädagogik als Fach nur wenig Relevanz abgewinnen mögen. So fällt es schwer, Motivation an Studenten zu vermitteln. Typ 2 erscheint besonders in Meisterlehrern und bei Vereinfachern, die zum Aufstieg der Ratgeberliteratur und Rezepte beitragen, indem sie dafür die Texte schaffen. Systemisch betrachtet sind die Studenten nicht nur diejenigen, die Vereinfachungen wollen, sondern auch Gefangene jener Autoren, die Vereinfachungen vorgeben. Und auch der Typ 3 fehlt nicht: Auch Professoren weichen gerade in der Pädagogik davor aus, der Krise, die sie oft wortreich theoretisch ausmalen, wenigstens in eigenen Seminaren durch positive Gegenbeispiele zu begegnen. So wie Professoren allgemein an deutschen Universitäten haben auch pädagogische Hochschullehrer sehr wenig Beziehungskontakte zu ihren Teilnehmern. Wie aber wollen sie dann die Motivation und Denkweise ihrer Studenten wahrnehmen? Wie wollen sie ihre Lehrkrise überwinden?

Zur Zeit täuschen die organisatorischen Strukturen der Massenuniversität darüber hinweg, daß gerade in der Pädagogik die Krise ein systemisches Wechselspiel zwischen Studenten und Hochschullehrern ist. Wenn beide ein äußeres Feindbild aufbauen, um in den gesellschaftlichen Strukturen von Mittelkürzungen und Beschränkungen die alleinige Ursache jeder Krise auszumachen, so verdeckt dies den Mangel an Beziehungsarbeit zwischen ihnen, die unabhängig von Mittelzuweisungen möglich wäre. Diese Kritik höre ich immer wieder, wenn ich mit Studenten diskutiere.

Es ist ein Glück, daß diese Typenlehre uns zwar Beobachtungen machen läßt, die sich mit den Typen decken, die wir in der Uni herumlaufen sehen, uns im Einzelfall aber auch oft betrügt. Nicht nur, daß jeder Student (und auch Professor) anders als ein anderer ist, hinzu kommt auch noch ein ständiger Wandel im Leben. Oder täuschen wir uns erneut? Sind im Studium nicht bestimmte Typen bevorzugt?
Ich will die Pädagogik als ein Familienbild darstellen: Erziehung gibt es immer schon, aber die Pädagogik ist ein sehr junges Fach: Ihre Geburt fällt in die Neuzeit, die Eltern sind Theologie und Philosophie, die Urgroßeltern Ritual und Mythos. Allerdings ist der weibliche Anteil bei den Eltern eher gering geschätzt, er wurde auch wenig dokumentiert. Die Familie dieser Disziplin ist inter-disziplinär, d.h. weder bei der Ahnen- noch Geschwisterreihe herrschen klare Abgrenzungen vor. Dies erschwert die Bestimmung der eigenen Rolle in der Familie, besonders da nebenrangig Geborene wie die Psychologie und Soziologie sich ständig in alle Belange einmischen. Umgekehrt ist das eigene Wachstum nicht so ausgeprägt, was aufgrund von Minderwertigkeit die Selbstfindung und Durchsetzung der eigenen Rolle erschwert.
Und schon bin ich wieder in einer Typisierung. Es ist unser Schicksal als Beobachter, daß wir dann solche Typisierungen - die immer Schablonen unseres Sehens sind und die Perspektiven einschränken - gebrauchen, wenn wir Beobachtungen - also schon Beobachtetes nach unseren spezifischen Blicken - Anderen mitteilen wollen.

Mit dieser Entschuldigung kann ich fortfahren, einen spezifischen Blick auf die Pädagogik zu werfen. Je nach dem Typ, den Sie wählen wollen, stehen Ihnen verschiedene Schwerpunkte zur Verfügung. Und es steht offen, mit welcher Intensität Sie sich auf solche Schwerpunktsetzungen einlassen wollen:

a) der sichere Weg: Historie (historische Pädagogik)
Dieser Weg dient vor allem der Familienrekonstruktion, d.h. in unserem Falle der Bewußtwerdung von Fragestellungen und Antworten verschiedener Zeiten zur Erziehung. Dabei besteht die Betrachtung überwiegend in der Betrachtung von Betrachtungen, d.h. in der Interpretation von Interpretationen, was zumeist eine Kette weiterer Interpretationen produziert. Ohne einen Blick in diese Kette von Begriffen und Aussagen würde der Gebrauch erziehungswissenschaftlicher Terminologien bzw. Theorien naiv und unverständlich werden. Bei zu vielem oder ausschließlichem Gebrauch entsteht eine vermeintliche Sicherheit, die sich auf die Fundamente der Vergangenheit beruft. Bei näherem Hinsehen jedoch kann solche Sicherheit sehr brüchig werden, denn die Versteinerungen, mit denen sie sich befaßt, bleiben bloße Momente von scheinbar wahrer Rekonstruktion, wenn sie nicht in einer Bedeutung für die Gegenwart auch konstruktiv erschlossen werden. Ein Minimum an Einführung in diesen Bereich sollte gleichwohl jeder gewinnen, der Pädagogik studiert.
(9)

b) die Lockungen des Vergleichs (vergleichende Pädagogik)
Vergleichende Fragestellungen haben aus der Sicht einer Tauschgesellschaft oft den Hang, das jeweils bessere Angebot herauszusuchen. Dies ist für die Geschichte der Pädagogik früher oft der Maßstab gewesen: sich selbst als den besseren Weg herauszustellen.

Die Kolonialisierung der vermeintlich unzivilisierten Kulturen führte zwangsläufig zu einer missionierenden Erziehung, deren Gewalt bis in die subtilsten Zweige der Umerziehung reichte und sich in ihrer Moral immer eindeutig sicher wußte. Diese Sicherheit des Glaubens ist durch die Verunsicherung des Wissens besonders in der Ethnologie in neuerer Zeit gebrochen, wenn auch noch nicht vernichtend geschlagen worden. Und nirgends ist die Gefahr gebannt, daß wir uns im Vergleichen - aus welchen Motiven auch immer - nicht besser fühlen als die anderen, denen wir beobachtend Rollen und Gefühle zuschreiben, um uns selbst besser zu verstehen. Was fällt uns beim Vergleichen so schwer? Das Leben anderer Kulturen erstaunt uns nicht nur in den Inhalten und Formen, sondern verunsichert unsere Gefühle, was notwendig Mechanismen psychischer Reaktion - insbesondere Abwehr - hervorbringt. Eine andere Form der Tabuisierung kann die Verweigerung der Beschäftigung sein. Hier fällt auf, daß insbesondere die Pädagogik sich kaum eigenständig mit dem Vergleich zu anderen Kulturen befaßt hat. Es ist ihr unentwickeltster Teil.

c) Systematik als Rettung
Es gibt unzählige Systematisierungsversuche in der Pädagogik. Viele sind davon geprägt, auf der jeweils erreichten historischen Stufe ein angepaßtes Maß an pädagogischen Notwendigkeiten zu formulieren, was zumeist eine hohe Moralisierung der Aufgaben einschloß. Die interessantesten Versuche scheinen meist jene an gesellschaftlichen Umbruchstellen zu sein, wo die Pädagogik über ihr eigentlich verordnetes Ziel gesellschaftlicher Anpassung hinausschoß und sich aufmachte, die Welt aus der Perspektive der Veränderung auch über erzieherisches Handeln zu sehen. Hinzu kommen die Systematisierungen in der Gegenwart, wobei ein jeder professionell organisierter Hochschullehrer sein eigenes Steckenpferd reitet, seine Terminologien, wie abgeschrieben sie auch sein mögen, modifiziert, umkonstruiert, als völlig neu proklamiert. Von solcherlei Systematisierung hing seine eigene Karriere ab, und an ihr wird sie meist weiterhin festgemacht.

Daraus entstehen teilweise Innovationen, immer mehr aber ergibt sich ein Leerlauf durch das ständige Umschreiben längst bekannter Sachverhalte oder Aussagen. Dem Neuling ist dies eine Welt der Unübersichtlichkeit, dem Fachmann oft ein Graus der Wiederholung. Die Kluft zwischen beiden ist unüberbrückbar eine des Wissensvorsprungs. Gleichwohl bleibt auch dem Neuling das wesentliche Kriterium der Anwendbarkeit der jeweils gewählten Systematik und der für ihn herstellbaren Plausibilität. Auch wenn diese sich im Verlaufe der Wissensaneignung verändert, so mischt sich hierein jene Neugier, die überhaupt nach Erklärungen sucht und die ihre einheimischen Systeme dafür findet. Ohne jedes System, so ist ein jedes Fach organisiert, ist es nicht zu verstehen und das Studium kaum zu bestehen.

d) die Reformer und Praktiker
Reformpädagogische Bewegungen haben Beispiele hervorgebracht, an deren praktischen Modellen sich gut Umsetzungsmöglichkeiten für Erziehung oder Veränderungen durch Erziehung studieren lassen. Solche Bewegungen sind meist in Zeiten des Umbruchs entstanden, aber es gibt sie in jeder Zeit, mitunter an versteckten Orten. Gleichwohl ist unsere Gegenwart nicht reich an solcher Bewegung, weil der organisierte und institutionalisierte, d.h. aber auch notwendigerweise der reglementierte Bestand an Erziehung bis in die Nischen der Gesellschaft differenziert und entwickelt ist. Insoweit erscheint die Reform eher in der individualisierten Gestalt des einzelnen Praktikers und kann auch nur dort vor Ort gefunden werden.

In all diesen hier nur formal genannten Strategien - und im Laufe des Studiums kommt man ohne sie nicht aus - gibt es anerkannte Theorien, sogenannte Referenzen. Es ist so wie mit der Rationalität: Man versucht in der Wissenschaft, alles nach der Vernunft zu ordnen und Gewißheit - so weit es geht - zu erlangen. Welche Probleme bei solcher Suche auftreten können, davon werden wir später handeln.
Aber schon hier will ich bemerken, daß neben der Rationalität immer auch die Irrationalität zu nennen ist. Was ist sie dem Grunde nach? Irrationalität ist zunächst eine Zuschreibung desjenigen, der sich rational wähnt. Diese Zuschreibung sagt so gesehen etwas über ein Verhältnis aus: Einer will, daß ein anderer so und nicht anders gesehen wird.
Im historischen Prozeß sind solche Zuschreibungsmuster verfestigt, sie sind zur Gewißheit geronnen, indem dieser andere als ver-rückt (und dies geschieht durch unseren Blickwinkel) isoliert wird. Wissenschaftlich betrachtet wird ein Referenzmuster errichtet, das sich an der sogenannten Normalität der Aussage orientiert. Gerade in jüngster Zeit hat die Moderne jedoch einen Knacks erlitten, wie wir schon diskutierten, wir sind verunsichert, und so treten neue Theoretiker und Praktiker auf, die die Referenz nicht nur mit neuen und anderen Referenzen, sondern mit Irreferenz verstören. Es ist dies ein Begriff, der aus der systemischen Therapie stammt (Cecchin), um anzuzeigen, daß die Referenz irreferent werden kann, wenn wir unsere Zuschreibungsmuster verstören, in Frage stellen, vielleicht aufgeben lernen.(10) Als Beobachter haben wir immer Referenzen. Aber indem wir sie enttarnen, dekonstruieren, zeigt sich die eigene Referenz im Blick auf alles das, was wir sonst noch sehen könnten, als irreferent.

Ich erwähne dies, weil dies in einer systemisch-konstruktivistischen Pädagogik, die immer auch auf Dekonstruktionen setzt, unvermeidlich ist: Immer dann, wenn wir eine nun vermeintlich gültige Referenz gefunden haben, gilt es, diese wieder zu verstören. Aber dabei komme ich nicht ohne Referenzen aus. Manche sind mir auch besonders wichtig. Gleichwohl erweisen sie sich als auch irreferent, entweder durch mich, wenn ich den Blickwinkel wechsel, oder durch Sie, den Leser, weil Sie Ihre Blickwinkel setzen. Wichtig ist es, nicht nur Referenzen dadurch zu verunsichern, daß wir jeweils andere Referenzen neben oder nach sie setzen, sondern in jeder Referenz immer auch den irreferenten Teil akzeptieren lernen. (10)

Es gibt keinen versöhnlichen Schluss, denn dieser Einstieg ist jeweils Anfang und Ende zugleich, weil die Theorien- oder Praxisketten auch in der Pädagogik so ineinandergreifen, dass wir aus dieser menschlich errichteten Konstruktion nicht einfach aussteigen können, sondern sie nur durch Rekonstruktion oder Dekonstruktion entweder zu erhalten oder zu verändern suchen müssen. Wer es mehr tut als andere, der mag sich weniger im Räderwerk fühlen wie die breite Masse, kann aber ggf. leichter unter die Räder kommen. Dies ist besonders bei Menschen, die den aufrechten Gang schätzen gelernt haben, weil er ihnen einen breiteren und besseren Blick ermöglicht, ein unvermeidliches Übel, zugleich aber die größte Hoffnung für alle zu Erziehenden, die gerne einmal groß und aufrecht gehen möchten.

Literatur:
Blankertz, H.: Die Geschichte der Pädagogik. Wetzlar (Büchse der Pandora) 1982
Bourdieu, P.: Entwurf einer Theorie der Praxis. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1979
Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1987)
Bourdieu, P.: Homo academicus. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1992
Cecchin, G./Lane, G./Ray, W.A.: Respektlosigkeit. Heidelberg (Auer) 1993
Elias, N.: Über den Prozess der Zivilisation. 2 Bde, Frankfurt a.M (Suhrkamp) 1976
Elias, N.: Die höfische Gesellschaft. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1983
Elias, N.: Die Gesellschaft der Individuen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 19883
Elias,N.: Engagement und Distanzierung. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 19902 a
Elias, N.: Über die Deutschen. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1990 b
Macpherson, C.B.: Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1973
Reich, K.: Systemisch-konstruktivistisch Pädagogik. Neuwied u.a. (Luchterhand) 1996 (2005 5. Aufl.)
Virilio, P.: Revolutionen der Geschwindigkeit. Berlin (Merve) 1993

 

Fußnoten :
1.
Dieser Text ist in Einführungsveranstaltungen in die Pädagogik Anlaß geworden, daß Studenten mit Fragebögen, in Diskussionsgruppen, mittels Stellwandtechniken reflektieren, welche konkreten Erwartungen sie beim Beginn des Studiums leiten. Diese Reflexionen sind mir im Sinne eigener Konstruktion wichtiger als eine bloße Referierung des Textinhaltes, dessen Ziel einzig die Initiierung solcher Selbstproblematisierungen ist.
2.
Vgl. dazu etwa Norbert Elias (1976, 1983, 1988, 1990). Vgl. einführend Reich (1996, Kap. 5).
3.
Vgl. Reich (1996, Kap. 11), wo am Beispiel von John Dewey diskutiert wird, weshalb z.B. moderne Didaktiken als Supermarkt- oder Wühltischdidaktiken erscheinen.
4.
Nehmen wir diesen letzteren Punkt, dann erweist sich ein Studium als ein "symbolisches Kapital". Vgl. weiterführend etwa Bourdieu (1979, 335 ff.; 1987, bes. 500 ff.).
5.
Einen guten Einführungstext in diesen Zusammenhang des Denkens bietet Mcpherson (1973), der die ersten Theorien des bürgerlichen Besitzindividualismus prägnant herausarbeitet.
6.
Vgl. hierzu insbesondere Nietzsches "Genealogie der Moral".
7.
Zu den Begriffen des Imaginären und Symbolischen vgl. Reich (1996, Kapitel 4).
8.
Aufgestellt wurde sie von einem Klassiker der Pädagogik: Rousseau. Vgl. daz
9.
So z.B. als Einführung Blankertz (1982). Aber Einführungen, dies ist zu bedenken, sind immer schon ein Konstrukt jener Beobachter, die sie entwerfen. Eigene Blicke in originäre Theorien scheinen mir unerläßlich zu sein, wenn die Oberflächlichkeit des Schauens durch tieferes Verständnis ersetzt werden soll. Dann wird auch klarer, daß Konstrukte der Vergangenheit meist vielschichtiger als unsere modernen Zusammenfassungen sind.
10.
" Der respektlose Therapeut unterminiert ständig die Muster und Geschichten, die Familien einengen, fördert Ungewißheit und gibt dadurch dem Klientensystem Gelegenheit, neue Werte, Bedeutungen und weniger restriktive Muster zu entwickeln." (Cecchin 1993, 25) Der Übersetzer hat »irreverence« mit »Respektlosigkeit« übersetzt. Ich bevorzuge die Wortneuschöpfung »irreferent«.

 

 

 
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