Interaktionistischer Konstruktivismus
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Kersten Reich
Humanwissenschaftliche Fakultät
Erziehungs- und Sozialwissenschaften
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Kersten Reich
last update: 31.08.2007 15:34
 
 
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...daß nie wieder Auschwitz sei!
Gedanken über ein dekonstruktivistisches Erziehungsziel
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  Prof. Dr. Kersten Reich  
 

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Einleitung Seitenanfang
  In der konstruktivistisch orientierten Literatur wird meist sehr breit auf die Relativität der Wahrheit von Beobachtern eingegangen, es wird betont, daß wir die Konstruktionen von Wirklichkeiten immer abhängig von den Systemen, für deren Beobachtung sich Beobachter entscheiden, sehen müssen. Aber in der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik (Reich 1996, insb. Kapitel 5) habe ich herausgestellt, daß die Beobachter sich mit dieser neuen Erkenntnistheorie nicht einfach eine neue und bloß ihnen gemäße Welt erfinden können. Das Normenproblem, das sich in allen Beobachterperspektiven stellt, gilt auch für den Konstruktivisten. Wann immer ich beobachte, so komme ich ohne eine gewisse Normierung dieser Beobachtung, in die Traditionen, Konventionen, Sozialisationseffekte usw. eindringen, nicht aus. Ich kann zwar Fehler einer zu engen oder immer gleich fixierten Beobachtung auszuschließen versuchen, aber ich kann nicht ausschließen, daß ich auch als Konstruktivist mich gegenüber unterschiedlichen Welt- und Lebensfragen spezifisch normativ verhalte.
   
 
An dieser Stelle schätzen wir im interaktionistischen Konstruktivismus deshalb die Dekonstruktion sehr hoch. Mittels der Dekonstruktion können Beobachters ich klarer auch im Blick auf eigene Normsetzungen verhalten, indem sie diese systematisch zu hinterfragen lernen. Solche Hinterfragung sollte nicht die Ausnahme, sondern der Regelfall sein.
   
 
Eine kritische dekonstruktivistische Sicht ist aber gewiß nicht nur bei den eigenen Konstruktionen angebracht, sondern vor allem dort notwendig, wo gesellschaftliche Strukturen rekonstruktiv in unsere Konstruktionsmöglichkeiten eingreifen. Wenn Konstruktivisten an dieser Stelle blind bleiben oder sich nur in allgemeinen Statements äußern, ohne konkrete Dekonstruktionen durchzuführen, dann wird ihr Ansatz im Blick auf Gesellschafts- und Alltagsprobleme nichtssagend und insbesondere für die Pädagogik unbrauchbar.
   
 
Ein exemplarisches Beispiel soll eine solche Dekonstruktion im Blick auf Normenfragen illustrieren helfen. Es ist kein zufälliges Beispiel, sondern ein systematisch notwendiges. Und als ein solches bezeichnet es ein dekonstruktivistisches Erziehungsziel, das uns als Konstruktivisten nicht vor die Möglichkeit unzähliger Erfindungen stellt, sondern durchaus klare normative Aussagen verlangt. Dies wird zwangsläufig auch bei anderen Fragen geschehen, in denen Gewalt, ungleiche Macht, Verletzung von Menschenrechten, Rassismus, Sündenbocktheorien usw. als Normen in einer Kultur uns konstruktivistisch zwingen, dekonstruktivistisch Stellung zu beziehen. Wenn wir uns die Frage stellen, warum gerade konstruktivistische Autoren bisher sehr wenig zu solchen gesellschaftlichen Fragen Stellung nehmen, so erkennen wir, daß der Konstruktivismus als eine relativierende Wahrheitstheorie auch eine Schwachstelle enthält: Man kann sich aus dieser relativierenden Position schnell zurückziehen und die Welt- und Alltagsprobleme von einer höheren, bloß noch verstehenden Warte aus betrachten. Dann wird man zum Erkenntnisskeptiker oder Solipsisten, beides Positionen, die für Pädagogen nicht sonderlich taugen. Als Pädagogen, die in Beziehungen stehen, die in einer Gesellschaft wirken, müssen wir stets mit normativen Problemen umgehen. Dabei können wir selbst nicht frei von Normensetzungen bleiben. Aber, dies mag uns konstruktivistisch gesehen von anderen unterscheiden, wir wollen uns dabei bemühen, durchaus unterschiedliche Blickwinkel einzunehmen und unsere Beobachterpositionen als eine Möglichkeit von Beobachtung darlegen.
   
 
Auschwitz markiert dabei für mich ein zentrales Exemplum für ein dekonstruktivistisches Erziehungsziel. Wir dekonstruieren dabei gesellschaftliche Normen und setzen ihnen eigene entgegen. Dies meint, daß wir nicht bloß historische Vorgänge betrachten, die wir rekonstruieren. Dies reicht bei Normenfragen nicht aus. Wir müssen uns in unserer Beschäftigung auch fragen und entscheiden, was wir daraus als menschlich wünschenswerte Entwicklung akzeptieren oder scharf verurteilen wollen.
   
 
Mit dem Namen Auschwitz verbindet sich ein großer Schrecken, ein Unsagbares, das besonders für die deutsche Pädagogik zu einer Herausforderung wurde. Theodor W. Adorno formulierte in einem Vortrag unter dem Titel "Erziehung nach Auschwitz" dabei Aussagen, die Zustimmung oder Ablehnung gefunden haben. In der Pädagogik nach 1945 stießen sie aber auch auf eine große Ignoranz, denn die Erziehungswissenschaft hat sich bisher eher zögernd mit ihrer eigenen Vergangenheit auseinandergesetzt. Aber dies ist schon ein Werturteilsstreit in der Erziehungswissenschaft selbst, und viele Pädagogen bestreiten - aus mir schwer nachvollziehbaren Gründen - die These von einer Kontinuität pädagogischer Normen, die aus der Nazidiktatur in die demokratische Entwicklung übernommen wurden. Es ist gerade mir schwer verständlich, weil ich zu einer Generation gehöre, die sowohl mit zahlreichen ehemaligen Nazipädagogen in der Schule konfrontiert war, als auch mit einer Pädagogik in Westdeutschland, in der die Beteiligung z.B. führender geisteswissenschaftlicher Pädagogen während der Nazizeit stets heruntergespielt wurde. Deshalb halte ich Adornos Aussagen gerade für die Pädagogik für treffend: "Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, daß ich weder glaube, sie begründen müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, daß man mit ihr bis heute sich so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug. Daß man aber die Forderung und was sie an Fragen aufwirft, so wenig sich bewußt macht, zeigt, daß das Ungeheuerliche nicht in die Menschen eingedrungen ist, Symptom dessen, daß die Möglichkeit der Wiederholung, was den Bewußtseins- und Unbewußtseinsstand der Menschen anbelangt, fortbesteht." (Adorno 1977, 674)
   
 
Angesichts der Tatsache, daß wir gerade in der sogenannten Zivilisation immer wieder mit barbarischem Verhalten konfrontiert sind, daß besonders in Kriegszuständen und bei wirtschaftlichen Notlagen oder Rezessionen immer wieder nach Sündenböcken gesucht wird, sollte man meinen, daß Adornos Forderungen viel Gehör gefunden haben müßten. Aber dies geschah ungleich weniger und offensichtlich unbedeutender, als es nötig gewesen wäre, wie die jüngste deutsche Geschichte belegt. Nicht nur, daß sich nach dem Hitler-Faschismus immer wieder rechtsextreme Organisationen in der BRD einen Raum behaupten konnten, die politische Diskussion blieb auch vielfach blind gegenüber jenen rechten Ideologien, die in den 90er Jahren für Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Terror von rechts verantwortlich wurden. WennPeukert Anfang der 90er Jahre noch fragte und zu verteidigen suchte, inwieweit Auschwitz als epochales Ereignis zu begreifen sei, und daß es in einer multikulturellen Gesellschaft zunehmend darauf ankommen werde, "auf einem neuen Niveau und mit neuer Bewußtheit kommunikative Verhältnisse zu rekonstruieren, die Individuen stärken und widerstandsfähig gegen totalitäre Vereinnahmungen machen" (1991, 136), dann scheint gerade hier auch ein Versagen jener gesellschaftlichen Kräfte angesagt zu sein, die solche Phänomene einerseits bedauern, ohne ihnen andererseits entschieden genug konstruktiv entgegenzutreten. Dies ist kein deutsches Problem, sondern charakterisiert den heiklen Balanceweg vieler Völker und der Völkergemeinschaft im 20. Jahrhundert, weil die gegensätzlichen Interessenlagen der Menschen und ihre Triebnatur (2) sich stärker in den historischen Prozeß einbringen, als dies aus der verallgemeinerten Sicht von wünschenswerten menschlichen Zielsetzungen erscheint.
   
 
Es gibt viele Wege, den Sinn von Adornos Satz näher aufzuspüren und auf unsere Zeit zu beziehen. Eine dunkle Stelle, ich habe sie zuvor schon angedeutet, ist gewiß die - zunächst unzureichende - Diskussion über die Beteiligung der deutschen Erziehungswissenschaft während des Faschismus und nach 1945, weil sie zu zeigen vermag, daß der Grundsatz, den Adorno aufstellte, eigentlich an der Disziplin, in die wir hier einführen wollen, ziemlich vorbei ging. Die deutsche Erziehungswissenschaft hat sich sowohl der Masse als auch der Qualität der Untersuchungen nach der Aufgabe entzogen, bereits in den 50er oder 60er Jahren mit der eigenen Vergangenheit umfassend im Sinne kritischer Rekonstruktion oder Dekonstruktion abzurechnen. Ja, die Abrechnungen sind bis heute Stückwerk geblieben. Aber auch die Schulpolitik wollte die Lehrpläne wenig mit den Altlasten beschweren, was eigentümliche Verdrängungsleistungen förderte und bis in die Zukunft fördern wird.
   
 
Aus den vielen möglichen Wegen des Aufspürens will ich hier einen auswählen, der mir besonders geeignet erscheint, das Ausmaß und die Wirkungen von Auschwitz zu begreifen. Ich wähle einen biographischen Zugang, wobei mir Wissenschaftler, die selbst im Lager waren und den Kommandanten von Auschwitz persönlich kannten, helfen werden, zu einer Interpretation zu kommen, die ich allein - als nicht an den Vorkommnissen Beteiligter - schwerlich so hätte finden können. (3) Bruno Bettelheim und Ernst Federn, zwei Psychoanalytiker, die ihren Lageraufenthalt umfassend reflektierten, werden mir helfen, sowohl die Beobachterstandpunkte als auch die Beziehungsfragen zu präzisieren, die sich dekonstruktivistisch als Sinnfrage einer Erziehung nach Auschwitz stellen. Dies schließt ein, daß wir uns rekonstruktiv damit auseinandersetzen, was Konzentrationslager waren und was sie aus den Menschen in ihnen machten. Und es stellt uns konstruktiv vor die Frage, daß wir dies nicht nur aus einer Perspektive des Lernens einer gewesenen Wirklichkeit von Auschwitz oder anderen Orten für uns wahrnehmen, sondern Konstrukte dafür gewinnen, daß nie wieder Auschwitz sei. Warum dies aber vor allem eine Aufgabe der Dekonstruktion ist, das soll sich im nachfolgenden Gedankengang selbst enthüllen. Er baut sich folgendermaßen auf:
   
 
Zunächst will ich aus der Sicht der Augenzeugen (4) rekonstruieren, was eine Extremsituation ist und was diese für eine Betrachtung ihrer Inhalts- und Beziehungsseite bedeutet. Dies führt dann zu notwendigen Konkretisierungen: Die Opfer erscheinen, wie sie aus ihrer distanzierenden Beobachterposition den Terror erlebten. Ein exemplarischer Täter - Rudolf Höss, der Kommandant von Auschwitz - wird rekonstruktiv vor Augen geführt, um dann beide Betrachtungsweisen zu einer systemischen Sicht über Wechselbeziehungen zwischen Opfern und Tätern zu verbinden. Hier zeigt es sich, daß die Augenzeugen Bettelheim und Federn zu sehr subtilen Überlegungen gelangten, die aufgrund ihrer klaren psychoanalytischen Einbindung entmoralisierend wirken und damit überhaupt erst ein systemisches Schauen gestatten. Schließlich wird auf Überlebende geblickt, um die Rekonstruktion nicht an der falschen Stelle, einer Historisierung ohne Bedeutung für die Gegenwart, abzubrechen. Auch uns als »Überlebende« in einem anderen Wortsinne stellt sich eine Aufgabe, die ich als dekonstruktiv herausarbeiten will.
   
1. Zur Inhalts- und Beziehungsseite extremer Situationen Seitenanfang
   
 
Wer sich mit Dämonen- und Geisterwelten beschäftigt, die die Menschheit vor allem in früherer Zeit in Angst und Schrecken zu versetzen imstande waren, der weiß, daß bereits die Namensgebung eine erste Distanzierungsform des Schreckens - meist des durch Menschen (ein)gebildeten - war. Neben den imaginären Schrecken hat die Menschheit aber auch immer reale Schrecken, die von Menschen verursacht wurden, hervorgebracht. Für beide Arten finden wir Namen, um etwas für uns Furchtbares, vielfach Unbegreifliches auszudrücken. Bereits die Wiedergabe des Namens oder Begriffes, den wir finden, ersetzt uns das unheimliche oder bedrückende Gefühl, das wir empfinden. Hier geschieht etwas Eigentümliches: Wir wechseln von der Beziehungsseite auf die Inhaltsseite. Wenn wir heute den Begriff Holocaust für die Schrecken der Naziherrschaft benutzen, "nehmen wir das Ereignis intellektuell, denn die ungeschminkte Wirklichkeit würde uns emotional überrollen" (Bettelheim 1990 a, 103). Es ist eine sprachliche Umschreibung, die nicht einmal stimmig ist, weil der Begriff Holocaust ursprünglich Brandopfer bedeutet und in der Sprache der Psalmisten alte Rituale von tiefer religiöser Natur bezeichnet. Diesen Begriff auf die Opfer des Massenmordes zu übertragen, erscheint Bettelheim als äußerst problematisch, obgleich er es in seinen Arbeiten auch tut. Aber wie sollte auch ein Begriff angemessen sein? In den Nürnberger Prozessen war technisch kühl von Genozid die Rede. Auch der Begriff Konzentrationslager, so belastet er uns erscheinen mag, verharmlost die eigentlichen Tragödien des KZ: Ausrottung, Vernichtung, Tod, Massenmord.
   
 
Ein Mensch verfügt im Normalfall nach Bettelheim über persönliche wie auch soziale Schutz- und Abwehrmechanismen, um starken Belastungen, die durch Fremdzwänge, durch äußere Gewalt von anderen Menschen, durch seelischen Streß in Not- und Entbehrungssituationen verursacht sind, gewachsen zu sein. Allerdings können solche Schutz- und Abwehrmechanismen zusammenbrechen, wenn der äußere oder innere Druck zu stark wird (vgl. ebd., 19 f.). Bettelheim selbst war einer solchen Belastungsprobe ausgesetzt. Er war von 1938 bis 39 Gefangener in den Konzentrationslagern Dachau und Buchenwald und ist nur mit Glück der Vernichtung entgangen. In solchen Situationen äußeren Drucks ist es schon schlimm genug, wenn das Vertrauen in Mitmenschen und die Gesellschaft sich als Illusion erweist und zusammenbricht. Katastrophal ist die Situation des dabei erfundenen Verlassenseins und die Erfahrung eines unmittelbar bevorstehenden Todes, der keine natürliche Ursache kennt. Der gleichzeitige Zusammenbruch der Schutz- und Abwehrmechanismen, "die gegen die Angst vor dem Tod errichtet worden sind", bringt den Menschen in eine Lage, die Bettelheim "Extremsituation" nennt (ebd., 20). Die Extremsituation wird in Beziehungen erfahren, wir aber distanzieren sie, indem wir inhaltlich mit ihnen umgehen. Wie jedoch sollen wir empfinden können, was in diesen Beziehungen geschah, wenn wir nur unsere Imagination strapazieren können, um uns über Inhalte - wie z.B. die hier geäußerten - solchen extremen Situationen annähern zu können?
   
 
So bemerken wir gleich zu Beginn unserer Beschäftigung mit der Extremsituation - dies ist auch nur ein künstlicher und rationalisierender Begriff - unsere Sprachlosigkeit, die wir überwinden, um uns mittels der Distanz von Sprache einen Rest zu bewahren und zu reflektieren, der in der Einzigartigkeit eines jeden Schicksals aufgehoben ist. Bettelheim ist sich dieser Problematik bewußt. So hielt er es für eine sinnvolle Erinnerung, die Namen der Opfer in ein Mahnmal einzumeißeln, statt ihrer bloß in Feierstunden allgemein zu gedenken. Der Name bleibt hier als eine nüchterne Spur der Biographie - auch wenn dadurch nichts wieder gut wird. Die Masse der Namen eines solchen Mahnmals dekonstruiert einen bloß allgemeinen Bezug auf den Holocaust, denn wenn das Allgemeine zu allgemein bleibt - hier der individuellen Namen beraubt wird -, dann fällt es uns schwer, noch begreifen zu können, welche Ungeheuerlichkeiten sich hinter diesem Allgemeinen in ihrer Besonderung, in ihrer Individualität verbergen. Es entspricht dies der Unfähigkeit des Menschen, in seinem Alltag auf grausame Ereignisse zu reagieren, wenn sie ihm massenhaft vorgeführt werden. Sterben Millionen an Hunger, so sagt uns das wenig. Sehen wir den Einzelfall eines tragischen Unglücks, dann werden unsere Sympathien geweckt (ebd., 268). So mögen uns Millionen von Namen in den Mahnmalen unserer Städte mehr erschrecken als Sonntagsreden über ein allgemeines Elend.
   
 
Aber zugleich distanzieren wir solche Mahnungen, weil sie uns im Verdrängungsprozeß - und muß man nicht jeden Schrecken irgendwie verdrängen, um sich eine aufsteigende Angst zu nehmen? - verunsichern. Wir reden von historischen Ereignissen. Vielleicht ist es uns auch unbegreiflich, was geschah.
   
 
Nun sind Extremsituationen aber keine historischen Ereignisse. Der Versuch der SS in den Vernichtungslagern, den Häftlingen jegliche Autonomie zu nehmen, um ihre Persönlichkeit aufzulösen, ihre Schutz- und Abwehrmechanismen zu zerstören, sie damit ihrer Individualität zu berauben, war besonders erschreckend und in einem bisher unbekannten Umfang durchgeführt. Aber dies war weder der erste noch der letzte Versuch in der Menschheitsgeschichte. Politische Systeme, die aufgrund ihrer totalitären Struktur auf Fremdzwänge als Motor der Selbstzwänge der Menschen vertrauen müssen, benötigen den Schrecken für bestimmte Gruppen, um die Angst vieler zu schüren und die Macht damit zu kontrollieren. Bettelheim war überzeugt, daß der Terror von Konzentrationslagern ein inhärentes Potential von technologisch ausgerichteten und totalitär orientierten Massengesellschaften sei, dem nur die Tendenz von Menschen entgegenwirken könne, moralische Skrupel aus eigenen Autonomiebestrebungen zu verwirklichen (vgl. ebd., 49 f.). Damit aber setzt er eine konstruktivistische Forderung: Es reicht nicht aus, das Elend der KZs bloß rekonstruktiv inhaltlich zu erinnern, sondern es wird zur Ausgangsbasis einer Erziehung, daß nie wieder Auschwitz sei, eine Autonomie von Menschen und eine entsprechende Moral zu konstruieren, die uns auf der Beziehungsseite vor solchen Extremen schützt.
   
2. Opfer: Zerstörung der Persönlichkeit oder Bewahrung der Selbstachtung? Seitenanfang
   
 
Eine Rekonstruktion dessen, was geschah, ist bereits ein Akt der Distanzierung. Die Beobachter werden in eine Versachlichung gedrängt, indem sie berichten. Die gilt auch für Bruno Bettelheim und Ernst Federn.
   
 
Beide Autoren beschreiben sich in ihrer Beobachterposition, die ihnen ihre psychoanalytische Vorbildung ermöglichte. Bettelheim bezweifelte zwar, daß die Psychoanalyse ihm irgendwie direkt zum Überleben half, aber er benutzte sie, um sich der Beobachtung des Verhaltens der Mitgefangenen und der SS-Wachen sicherer zu werden, seine Selbstachtung durch kritische, rationalisierende Distanz zu bewahren. Federn wurde durch seinen siebenjährigen Lageraufenthalt sehr bestärkt, daß die Psychoanalyse - neben einer gesellschaftskritischen Sicht (5) - hilft, die Abgründe der menschlichen Seele besser zu verstehen und sich selbst in der Beobachterposition zu reflektieren. Beide jedoch waren eben nicht nur Beobachter - wie ihre Rolle uns als Leser ihrer Berichte erscheinen mag -, sondern auch Beteiligte, Betroffene, Gequälte. Das Niederschreiben hatte für sie den Effekt der Abarbeitung, der gedanklichen Wiederholung von Wunden und der Bearbeitung, damit einer reflektierten Auseinandersetzung. Daß beide in dieser Auseinandersetzung vor allem die Versachlichung der Rollen von Opfern und Tätern intendieren, steht für die hohe Qualität dieser Bearbeitung. So, wie Abweichungen vom scheinbar Normalen in der Psychoanalyse nicht moralisiert werden, so besteht der Versuch einer versachlichten Beschreibung von Extremsituationen darin, die agierenden Personen und ihre Interaktion und Kommunikation so herauszuarbeiten, daß die einzelnen, unterschiedlichen Motive von Handlungen und die Bedeutung ihrer Wechselwirkung stärker hervortreten. Eine solche entmoralisierende Haltung ist allerdings nicht moralfrei. Bettelheim leitet aus ihr die Notwendigkeit ab, gegen die Masse, gegen totalitäre Umgebungen und für mehr Ich-Autonomie zu streiten, damit nie wieder Auschwitz sei. Federn sieht, daß der Mensch eine besonders bösartige Spezies sein kann, daß man dabei aber auch erkennen muß, daß er "Fähigkeiten besitzt, seine »Bestialität« zu überwinden und die ursprünglichen Triebe zu kulturvollem Tun umzugestalten." (Federn 1989, 54) Nur wenn der Mensch mehr von sich weiß, wird er sich nach Federn durch Kultur vor der Barbarei bewahren können.
   
 
Fassen wir die Beobachtungen der Mittel des Terrors nach Bettelheim und Federn zusammen, dann ergibt sich eine schauerliche Klassifizierung. In Extremsituationen erscheinen physische und psychische Mittel des Terrors. Zu den physischen zählt Federn (ebd., 54 ff.) vor allem Gewaltanwendung, die dem Täter Lust bereiten kann, weil er hierdurch seinen Sadismus oder seine Eigenliebe bestätigt, um sich überlegen fühlen zu können. Ganz gleich ob diese Gewalt persönlich nach der Art des Faustrechts oder institutionell abgesichert abläuft, sie ist für das Opfer stets traumatisierend. Ihre einfachste Form ist körperlicher Schmerz. Die subtilsten Foltern müssen nicht mehr schmerzen als einfache Torturen, unerträglich werden sie meist im Zusammenwirken mit psychischen Qualen. Ein gefesselter und geknebelter Gefangener empfindet den Schmerz stärker, und wenn der Schmerz unerträglich wird, folgt ein dem Wahnsinn ähnlicher Anfall, wobei der Gefangene seine Selbstbeherrschung verliert (urinieren und einkoten sind oft die Folge). Werden Schmerzen immer wieder gleich zugefügt, so kann man abstumpfen, aber meist ist die Angst vor den Schmerzen, die bei jeder Tortur eingesetzt werden, schwerer zu ertragen als der Schmerz selbst. Die Schmerzabwehr wird zwar bei jedem Gequälten hervorgerufen, aber bei zu langen Qualen und nach einer gewissen individuell unterschiedlichen Dauer erlischt sie mehr und mehr. Dann sind die Gequälten stark selbstmordgefährdet. Neben Schmerzen sind Durst und Hunger Foltermittel, die rasch zum Zerfall führen können. Durst schwächt sehr schnell alle Energien. Hunger erzeugt ähnlich wie Schmerz eine große Abwehrarbeit, die sich darin ausdrückt, daß in den Lagern dauernd vom Essen gesprochen und darüber phantasiert wurde. Sexualnot ist ein weiteres Terrormittel, wobei auffällig war, daß über sie viel weniger differenziert gehandelt wurde als über den Hunger. Unterernährung und Überanstrengung bei der Arbeit spielen ebenfalls eine große Rolle. Hunger demoralisiert, aber die Wirkungen der Folter sind in aller Regel stärker. Ungewohnte Arbeit, die mit Schmerzen und Überanstrengung verbunden ist, kann auch als Qual eingesetzt werden. Unerträglich ist auch auferlegte Untätigkeit im Wechsel mit dem Terror ungewohnter, harter Arbeit, besonders wenn diese für sinnlose Tätigkeiten verausgabt wird. Ein gesunder Körper, besonders Magen und Beine, sind die beste Überlebenschance, wenn der Wille nur stark genug war, gegen die Regression anzukämpfen, von der gleich noch ausführlich gesprochen werden soll.
   
 
Die psychischen Qualen beginnen mit dem Freiheitsentzug, dem äußeren Druck, der in innere Zwänge verwandelt wird, wobei es dem Ich schwer fällt, nach und nach zu erkennen, wo sein eigener Willensspielraum noch liegt. Der Freiheitsentzug, der verschiedene Grade und Qualitäten kennt, wird ergänzt durch Demütigungen und Kränkungen, weil das Ich in eine Lage versetzt wird, in der es sich - auch wenn es körperlich dies vielleicht könnte oder sein Gefühl danach verlangt - nicht wehren darf, wenn es überleben will. Die Ungewißheit der Situation und Unvoraussagbarkeit der Zukunft erzeugen starke psychische Zweifel, die dem Ich die Kontinuität seiner Werte und vertrauten Muster berauben. Die Wiederholung als gewohnt und vertraut angesehener Gefühle wird genommen, was selbst jene Charaktere, die in der Freiheit das Abenteuer liebten, an sich verzweifeln läßt. Nur der Tod ist sicher, aber dieser droht in unterschiedlichen qualvollen Arten. Der Leidensdruck wird durch ständige Verstärkung von Angstzuständen aufrechterhalten. Besonders tragisch wirken geweckte Hoffnungen, die enttäuscht werden. Ein Freihheitsentzug auf bestimmte Zeit mag noch als irgendwie begründete, wenn auch ungerechte Bestrafung empfunden werden. Ein Freiheitsentzug auf unbestimmte Zeit, verbunden mit Unsicherheit und Unvoraussagbarkeit der Zukunft, erscheint nicht mehr als irgendeine Bestrafung, sondern als Willkür, als Terror, macht größte Angst und läßt allerlei Mutmaßungen und Gerüchte zu, die der Hoffnung meist einen irrationalen Ausdruck verleihen. Wird diese mehrfach enttäuscht, dann kann die stärkste Abwehr des Ichs zusammenbrechen. Dies wird regelmäßig dann erreicht, wenn es gelingt, ein Individuum moralisch zu zerbrechen, d.h. gegen seine inneren Werte handeln zu lassen. Die Zerstörung jener Instanz, die die Psychoanalyse Über-Ich nennt, vernichtet das, was einem Menschen "heilig" ist; verliert er dies, dann wird er haltlos, mißachtet sein Selbst. "Unser Über-Ich ist für unsere Seele wie ein Rückgrat; einmal gebrochen, ist ewiges Siechtum oder Tod die Folge. Jemandem das »Rückgrat brechen« ist daher ein richtig gewählter Ausdruck und eines der vornehmlichsten Ziele eines terroristischen Regimes." (Federn 1989, 62) (6)
   
 
Alle totalitären Gesellschaften kennen die Anwendung dieser Terrormittel, die mit Bespitzelung, Verfolgung, Verdächtigung, Umerziehung, Bedrohung und anderem mehr einhergehen. (7)
   
 
Je mehr Schmerzen zugefügt werden, desto mehr versucht der gequälte Mensch, den Zwang abzuwehren. Hierbei helfen ihm psychische Mechanismen. Für Federn ist es auffällig, daß die Schmerzabwehr große Energien hervorbringen kann - bedingt durch die Angst vor Qualen -, so daß das Individuum voll in Anspruch genommen werden kann und mehr erträgt, als es von sich selbst dachte. Dabei können allerdings negative Abwehrleistungen Oberhand gewinnen, wenn Abwehr gegen Hunger große Phantasien erzeugt, die dann in Gewalt gegen Schwächere umschlagen, oder wenn die Abwehr gegen die Demütigungen ein verschlagenes und falsches Selbstbild erzeugt, das die Psyche vergiftet. Optimistische Abwehrhaltungen zu entwickeln, ist unter solchen Umständen schwierig, es erscheint als wirklichkeitsfern, obgleich solche Menschen, die im Schlimmsten noch das Positive sehen, den anderen viel Mut geben können - bis der Punkt erreicht ist, wo auch sie verzweifeln. Pessimisten stellen aus Abwehr alles schlecht dar, versuchen jedoch möglichst jedes Unglück zu vermeiden. Aber dies sind alles nur beobachtende Zuschreibungen, die verdeutlichen helfen sollen, wie wichtig die Angstabwehr im Kampf gegen jeglichen Terror ist. Bettelheim nennt hierzu an erster Stelle die Bewahrung der Selbstachtung, einer Ich-Autonomie, die zugleich für ihn die wesentliche Voraussetzung im Kampf ums Überleben im Lager und nach dem Lager ist.
   
 
Die ersten Konzentrationslager wurden von den Nazis im Jahre 1933 eingerichtet. Die Lager dienten in erster Linie dem Terror jenen Menschen gegenüber, die dem Regime Widerstand entgegenbrachten. Es entstanden im Laufe der Jahre mehrere Lagertypen, wobei man Arbeitszwangslager, Terrorlager und reine Vernichtungslager unterscheiden kann. Dort, wo die Terrorlager anfangs noch d er Umerziehung von Regimegegnern und Vernichtung von Personen dienten, die sich der Zerstörung ihrer Persönlichkleit widersetzten, entstanden ab 1942 vielfach reine Vernichtungslager. Ein Teil der Lagerinsassen überlebte nur, weil die Ausbeutung von Arbeitskräften im Sinne der Sklaverei bis zum Ende des Krieges immer auch eine Funktion behielt. (8) Bettelheim unterteilt das Lagerschicksal, das sich für seine Erfahrungen als Terror und Umerziehungsversuch darstellte, in zwei Phasen, die durch mehrere Unterphasen charakterisiert sind:
   
 
a.) die Phase des Schocks der ersten Gefangennahme, des Transports und der ersten Anpassung; hier wurden die physischen und psychischen Weichen gestellt, ob man die erste Zeit im Lager überlebte;
   
 
b.) die Phase der langfristigen Anpassung an das Lagerleben, denn niemand wußte zu sagen, wie lange er bleiben mußte.(9)
   
 
Er macht für die unterschiedlichen Gruppen, die in die Lager kamen, deutlich, welche Terrormaßnahmen dazu führten, daß die Persönlichkeit bis an die Grenze ihrer Zerstörung oder zur tatsächlichen Vernichtung geführt wurde. Dabei sind es physische und psychische Maßnahmen des Terrors (10), mit denen die Häftlinge konfrontiert waren. Grundlegend war immer die Traumatisierung, die die SS-Wachen in allen unmenschlichen Formen auslösten. Dahinter stand der einheitliche Zweck der Zerstörung der Persönlichkeit. Dies wurde vor allem auf drei Wegen angestrebt: Die erste Methode bestand darin, "die Häftlinge zu zwingen, sich wie Kinder zu verhalten. Die zweite zielte darauf ab, daß die Häftlinge ihre Individualität aufgeben und sich in eine amorphe Masse eingliedern sollten. Die dritte bestand darin, jedwede Möglichkeit der Selbstbestimmung zu beseitigen, dem Häftling die Möglichkeit zu nehmen, die Zukunft vorherzusagen und sich auf sie vorzubereiten." (Bettelheim 1989, 144) An einer anderen Stelle beschreibt Bettelheim, daß durch die Lager nicht nur der individuelle Widerstand gebrochen werden sollte, um eine gefügige Masse zu erzielen, sondern daß dies auch und zugleich unter der Bevölkerung Terror verbreiten sollte, um politische Macht zu demonstrieren. Für die Nazis selbst waren die Konzentrationslager zugleich Exerzierplatz und Versuchslabor für ihre menschenverachtenden Strategien und Handlungen (vgl. Bettelheim 1990 a, 59 f.).
   
 
Unterschiede zwischen alten und neuen Häftlingen halfen Bettelheim, Wandlungsprozesse in der Anpassung an die Fremdzwänge des Lagers und ihre Verinnerlichung in Selbstzwänge zu bemerken. Dabei war es für ihn besonders auffällig, daß diejenigen, die ein festes Welt- oder Glaubensbild mitbrachten, eher mit der Situation auskamen als jene, denen schon die Verhaftung und ihr individuelles Schicksal unklar blieben, weil sie die politischen Beweg- und Abgründe des neuen Systems nicht durchschauten. Jene stellten für das Feindbild der Wachen eine besondere Bedrohung dar, da allein schon die Frage nach der Ursache einer Verhaftung oder Qual von der SS abgewehrt werden mußte, um das Bild von Kriminellen, vom Abschaum der Menschheit und ähnlichen Zuschreibungen sich selbst aufrecht zu erhalten. Man brauchte Glück, um zu überleben. Wer der persönlichen Laune eines Sadisten und pathologischen Mörders ausgesetzt war, der hatte kaum einen Verhaltensspielraum. Grundsätzlich aber hing das Überleben in erster Linie davon ab, den eigenen Lebenswillen zu aktivieren. Eine gute körperliche Verfassung war angesichts der Unterernährung, harter Arbeit, vielerlei unsäglicher Quälereien und Strafen die Grundlage für den Überlebenskampf. Entscheidend aber war, sich selbst in der Freiheit seiner Entscheidungen zu behaupten, um die Qualen zu überstehen. Bettelheim beschreibt immer wiederkehrend diesen Existenzkampf, der schon damit beginnt, sich frei dafür zu entscheiden, widerliche Nahrung zu sich zu nehmen, sich dem Zwang einer willkürlichen Ordnung zu unterwerfen, die die grundlegendsten Bedürfnisse - wie den Gang zur Latrine - durchgehend schikaniert, sich der Sexualnot zu stellen, ohne in der Angst um die eigene Potenz zu verzweifeln, sich der Unsicherheit der Zukunft so auszusetzen, daß der eigene Wille den Körper immer noch beherrscht. Es mag paradox erscheinen, hier überhaupt noch von freien Handlungen zu sprechen, aber Bettelheim betont dies ausdrücklich (Bettelheim 1989, 163). Sich zum Essen zu zwingen, dies resultiert aus inneren Werten, die den Respekt vor der eigenen Person bewahren, die Aktivität ausdrücken. Hingegen Verrat an Kameraden zu begehen, um sich irgendwelche Vorteile zu verschaffen, folgt den Zwängen der SS und nicht der eigenen Werthaltung - schwächt mithin nicht nur die notwendige Kameradschaft im Überlebenskampf, sondern auch die Selbstbehauptung der eigenen Persönlichkeit. Sich dem Elend passiv hinzugeben, erspart den Mördern auch noch die Kugel, deren Wert sie immer vor den Gefangenen behaupteten (11), denn Selbstmord war für die Wachen die bequemste Lösung. Sehr viele Häftlinge gaben ihren Lebenswillen auf. Sie wurden als Muselmänner (12), als wandelnde Leichen bezeichnet, die sich ergeben in ihr Schicksal fügten, indem sie ihre Selbständigkeit aufgaben. Sie standen jenen Häftlingen als ständige Gefahr vor Augen, die Selbstachtung zu verlieren, obgleich doch ein jeder ihnen schnell ähnlich werden konnte, denn die letzte menschliche Freiheit riskierte offensichtlich das eigene Leben im Aufbäumen gegen die Schikanen der SS.
   
 
Es erhebt sich hier die Frage, warum Millionen in den Tod gingen, ohne sich gegen die Mörder hinreichend zu wehren. Bettelheim erfragt dies auf mehreren Ebenen: Warum gab es nicht schon Widerstand bei der Verhaftung? Waren die Hoffnungen zu groß, einen Irrtum zu unterstellen? Hatte man die schon vorliegenden Berichte unterschätzt? (13) Warum gingen mehrere Hundert Gefangene neben wenigen Wachen einher, ohne diese zu überwältigen? War dies eine Angst vor dem unmittelbaren Tod, wo der mögliche Tod noch verdrängt in der Ferne lag? Warum gab es nur wenige Versuche, die Mörder direkt an der Stelle des Mordes - den eigenen Tod direkt vor Augen - zu beseitigen?
   
 
Immerhin gab es Widerstand. So etwa das 12. Sonderkommando, Häftlinge, die in den Gaskammern arbeiteten und wußten, daß sie die nächsten Todeskandidaten sein würden. Sie töteten 70 SS-Leute. Oder das Beispiel einer Tänzerin, die vor der Gaskammer tanzen mußte und sich dabei der Waffe eines SS-Mannes bemächtigen konnte und ihn tötete. Sie alle fanden daraufhin den Tod, der sie ohnehin erwartete. Aber wenn Millionen im Widerstand gehandelt hätten, wären die Lager dann nicht gescheitert?
   
 
Diese Fragen werden von Bettelheim immer wieder radikal in seinem Buch "Aufstand gegen die Masse" gestellt: "Trotz den Hunderttausenden von lebendigen Toten, die sich ruhig auf ihre Gräber zubewegten, zeigt dieses eine Beispiel (er spielt hier auf die Tänzerin an, d.Verf.) - und es gab mehrere -, daß die alte Persönlichkeit sofort wieder erlangt werden kann, daß die Zerstörung der Persönlichkeit aufgehoben wird, wenn wir uns selbst dazu entschließen, nicht mehr Einheiten eines Systems sein zu wollen."(Bettelheim 1989, 285)
   
 
Aber ist dies nicht genau die Falle, die die Lager so wirksam machte? Sind wir nicht Zeit unseres Lebens daraufhin geprägt und erzogen worden, uns an das System anzupassen, das man als Umwelt, Kultur oder Zivilisation bezeichnet? Werden wir nicht wehrlos, wenn sich dieses in Barbarei verwandelt? (14) Wo wir eben noch distanziert über Lager, die uns fremd geworden sind, reden, da spüren wir hier auf einmal die Aktualität auch der Forderung Adornos, daß es unser oberstes Erziehungsziel sein müsse, daß nie wieder Auschwitz sei. So denken wir schnell, wenn man uns die Opfer rekonstruiert. Aber wie denken die Täter?
   
3. Täter: Der Kommandant von Auschwitz Seitenanfang
   
 
Rudolf Höss, der Kommandant von Auschwitz, hat vor seiner Hinrichtung eine Autobiographie geschrieben, die uns einen Blick auf den Täter, in sein Weltbild und in seine Verdrängungsleistungen gestattet (vgl. Höss 1992).
   
 
Höss war auf dem Land aufgewachsen. Er war tierlieb, naturverbunden, er schilderte sich als Einzelgänger, der am liebsten alleine spielte und unbeobachtet war. Besondere Auffälligkeiten zeigte er nicht, außer vielleicht, daß er einen Hang zum Wasser, zum ständigen Waschen hatte. Sein Vater war Kaufmann, er wuchs im Mittelstand auf. Die größte Freude war für ihn ein Pony, das er zum siebten Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Während der Schulzeit war ihm die Kameradschaft mit gleichaltrigen Jungen wichtig.
   
 
Rudolf Höss war von seiner Familie mit einer Mission beauftragt. Er schrieb: "Durch das Gelübde meines Vaters, wonach ich Geistlicher werden sollte, stand mein Lebensberuf fest vorgezeichnet. Meine ganze Erziehung war darauf abgestellt. Ich wurde von meinem Vater nach strengen militärischen Grundsätzen erzogen. Dazu die tiefreligiöse Atmosphäre in unserer Familie. Mein Vater war fanatischer Katholik." (Ebd., 24) Sein Vater erzählte ihm oft von seiner Kolonialzeit, in der er in Ostafrika tätig geworden war. Für Rudolf Höss stand damals fest, daß er Missionar werden wollte, er betete hierfür und war auch ansonsten tief gläubig. Als Ministrant nahm er seine religiösen Pflichten ernst. Dabei wurde folgender Grundsatz der Erwachsenenwelt für den Knaben zu einer unerschütterlichen Leitschnur: "Von meinen Eltern war ich so erzogen, daß ich allen Erwachsenen und besonders Älteren mit Achtung und Ehrerbietung zu begegnen hätte, ganz gleich aus welchen Kreisen sie kämen. Ganz besonders wurde ich immer wieder darauf hingewiesen, daß ich Wünsche oder Anordnungen der Eltern, der Lehrer, Pfarrer usw., ja aller Erwachsener bis zum Dienstpersonal unverzüglich durchzuführen bzw. zu befolgen hätte und mich durch nichts davon abhalten lassen dürfe. Was diese sagten, sei immer richtig." (Ebd., 25)
   
 
Diese Mission, die Rudolf Höss auferlegt wurde, sollte viel Unheil heraufbeschwören. (15) Es war eine doppelte Botschaft in ihr enthalten, die der Vater von Höss durch seine Einstellungen dem Sohn als Vorbild mit auf den Weg gab: Als fanatischer Katholik sei dieser gegen die Reichsregierung gewesen, habe aber zugleich betont, daß man den Gesetzen der Regierung - solange sie besteht - immer zu gehorchen hätte. Pflichtbewußtsein war für den Vater der Garant einer Selbstbehauptung, die er seinem Sohn kleinlichst anerzog. Liebe hingegen war selbst zwischen den Eltern in Form des Austauschs von Zärtlichkeiten unbekannt. Zwar fiel nie ein lautes Wort, aber Rudolf hatte niemanden, mit dem er Kummer oder Sorgen teilen konnte. Er mußte alles mit sich und seinem Pflichtbewußtsein abmachen.
   
 
Wenn man diesen Text von Höss liest, dann fragt man sich, inwieweit er hier bereits Entschuldigungen seines Handelns beschreibt oder ob dies eben die Merkmale sind, die sein - aus heutiger Sicht - unbegreifliches Handeln erst ermöglichten. Aber es muß deutlich bleiben, daß seine Sozialisation in keiner Weise ungewöhnlich, unzeitgemäß oder gesellschaftlich abweichend für seine Generation war.
   
 
Sein religiöses Weltbild wurde mit 13 Jahren zutiefst dadurch erschüttert, daß vom Pfarrer das Beichtgeheimnis gebrochen wurde. Der Pfarrer hatte seinem Vater einen gebeichteten Streich mitgeteilt, was zu einer Bestrafung führte. Später schrieb Höss, daß hierdurch seine tiefe, kindliche Gläubigkeit zerstört worden sei. Der Vater verstarb wenig später. Der Erste Weltkrieg brach aus, und es gelang Rudolf Höss, gegen den Willen seiner Mutter und das Gebot des Vaters, als noch nicht 16-jähriger, ins Militär zu gelangen. Er diente in einem Regiment, in dem schon Vater und Großvater gedient hatten und erfüllte so die militaristische Mission seiner Familie.
   
 
Was die psychische Struktur von Rudolf Höss anbelangt, so beschreibt er einige Szenen, die uns helfen, seinen späteren Werdegang zu begreifen. Drei Aspekte fallen in seiner Darstellung deutlich ins Gewicht:
   
 
a) Fehlende Zärtlichkeit: Sein erstes Liebeserlebnis fand in einem Lazarett im Kriege statt. Er selbst hatte seinen Trieb bis dahin abgewehrt, und er wurde von einer deutschen Krankenschwester gepflegt. Die Schwester sorgte für ihn, wie es besser seine Mutter nicht hätte tun können. Aber dies war nicht durch mütterliche Zuneigung veranlaßt. Höss schreibt: "Anfangs verwirrte mich ihr zartes Streicheln, ihr länger als nötiges Festhalten und Stützen, da ich allen Zärtlichkeitsbeweisen seit meiner frühesten Jugend stets aus dem Wege gegangen war." (Ebd., 33) Durch die Aktivität der Frau kam es dann aber doch zur geschlechtlichen Vereinigung, die Höss in sein pflichtbesessenes Weltbild integrierte. Seit dieser Erfahrung, so sagte er von sich, konnte er nie "unzüglich" von der Zartheit des Vorgangs und der innigen Zuneigung, die dieser erfordert, sprechen, was ihn vor Bordellen und Liebeleien bewahrte. Zärtlichkeit ohne Pflichtbewußtsein, Sexualität ohne tiefere Liebe - oder das, was die Konventionen der Gesellschaft davon halten - war für Höss unvorstellbar. Damit aber blieben zärtliche Regungen gegenüber den ferneren Mitmenschen abgespalten: Man konnte und durfte nur jene eng lieben, zu denen man ein Pfhlichtgefühl und erwartete Nähe aufgebaut hatte. Ander blieben fremd. So konnte es geschehen, daß Höss ein liebender Familienvater wurde, während er gleichzeitig als Massenmörder in Auschwitz agierte.
   
 
b) Feuertaufen: Es ist ein großer Schritt von der Fantasie des Kämpfers hin zum ersten Kampf Auge in Auge, zum ersten Mord, der hier Bewährung des Soldaten heißt. (16) Auch Höss hatte hier seine Skrupel, die gewiß durch sein religiöses Weltbild mit geprägt waren. Doch als im Kampf neben ihm die Kameraden fielen, da packte ihn ein unheimliches Grauen, das schließlich die Todesangst freisetzte. Er schrieb: "Doch dann sah ich in meiner Verzweiflung plötzlich, wie unser Rittmeister zwischen uns hinter einem Felsbrocken lag und mit eiserner Ruhe, wie auf dem Schießstand, mit dem Karabiner des neben mir Gefallenen seine Schüsse abgab." (Ebd., 30) Dann schoß auch Höss und sah den ersten Angreifer fallen, niedergestreckt durch seine Kugel. Später sprach er mit dem Rittmeister, der ihn ob seines Verhaltens lobte. Mit seiner Feuertaufe wurde er erst richtig in die Gemeinschaft der Soldaten aufgenommen. Und er verlor seine Skrupel, die vor der ersten Tötung liegen. Damit war eine Hemmschwelle genommen, die sich noch als folgenreich erweisen sollte.
   
 
c) Vatersuche und Untertänigkeit: Über diesen Rittmeister sagte Höss, daß er sein Soldatenvater gewesen sei, zu dem er ein innigeres, zutraulicheres Verhältnis als zu seinem eigenen Vater hatte finden können. Dieser Ziehvater war streng und unnachgiebig, aber immer um ihn besorgt und stolz auf jede seiner Beförderungen. Der Soldatenvater ersetzte ihm zwei Väter: den realen eigenen Vater, der ihm als Identifikationsfigur in der Rolle des Kriegers und Helden allerdings erhalten blieb, auch wenn er fehlende Zärtlichkeit beklagen mußte; und den göttlichen Vater, der durch die Kirchenvertretung für Höss sehr an Glaubwürdigkeit eingebüßt hatte, der für ihn durch seine Vertreter zu widersprüchlich war, weil er im Verhalten der Menschen keine Einheitlichkeit, Eindeutigkeit, keinen Gehorsam und keine Pflicht auszuüben imstande war. Zwei Prinzipien rückten an die Stellen, die zuvor der eigene und der göttliche Vater besetzt gehalten hatten: die soldatische Gemeinschaft, in der sich Höss beweisen konnte und, um geliebt zu werden, auch beweisen mußte; die Führergefolgschaft gegenüber Vorgesetzten, die als konkrete Väter fungieren konnten. Höss war der jüngste Unteroffizier des Heeres, er wurde mehrfach ausgezeichnet.
   
 
Diese drei Aspekte seiner psychischen Struktur bedingten, daß Höss nach dem Kriege wie verloren war. Für Zärtlichkeiten und die Gründung einer Familie war er nicht hinreichend erzogen, seine Vatersuche war nicht abgeschlossen und die Feuertaufen hatten in ihm Gedanken geweckt, die das übliche bürgerliche Leben nicht ertragen ließen. Der Auftrag der Familie, Priester zu werden, erschien ihm unmöglich. Aber alles war in der Familie so eingerichtet, daß er Priester werden sollte. Dies galt insbesondere nach dem Tod seiner Mutter: Es gab keinen Hausstand mehr, keine Heimat, die Schwestern befanden sich in Klosterschulen, die Verwandten hatten den Rest unter sich aufgeteilt. Höss wandte sich von seiner Familie ab und suchte das, was er als Gemeinschaftsgefühl erlebt hatte, zu wiederholen. Er wurde Soldat, indem er sich in ein Freiwilligen-Korps nach dem Baltikum meldete. Kameradschaft wurde zu einem Ersatz, zu einer sozialen Basis, die dem Einzelgänger Rückhalt gab, Feuertaufen wurden zum ständigen Beweis der Richtigkeit dieser Wahl.
   
 
Es ging Höss nie um die Frage, was er da tat, warum Grausamkeiten nötig erschienen und wie man solchen Strukturen entkommen könnte. Seine Kategorien waren Mitmachen oder Verrat üben, Dabeisein und sich Bewähren oder Untergehen, wertlos sein. Dabei schwankte er zwischen der soldatischen Existenz und einer landwirtschaftlichen Arbeit, die nach der Ideologie von Blut und Boden von einem natürlichen Neubeginn des Menschenseins schwärmte. Sein soldatischer Eifer aber wurde ihm zum Verhängnis. In einem Fememordprozeß wurde er zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt. Er blieb bis zu seinem eigenen Tod davon überzeugt, daß sein Handeln richtig war, daß der Verräter, den sie hingerichtet hatten, auch den Tod verdient hatte.
   
 
Hier kommt ein weiterer Aspekt seiner psychischen Struktur zum Vorschein, der während der sechs Jahre Zuchthaus, die er abzusitzen hatte, ebenfalls deutlich verstärkt wurde:
   
 
d) Ungeschriebene Gesetze: Was veranlaßt uns zum Töten? Wenn der Staat versagt, dann scheinen ungeschriebene Gesetze zu wirken, grundsätzliche Gefühle von Recht und Unrecht, die zu Handlungen werden. Höss hatte zu solchen Gesetzen einen starken Zugang, denn seine von Kindheit an anerzogene Pflichtbesessenheit prädestinierte ihn als Erfüllungsgehilfen und Erfüller solcher Gesetze, mit denen er sich identifizieren konnte. Dabei war es ihm nicht wichtig, den Ursprung und Sinn solcher Gesetze skeptisch nachzufragen, solange sie aus dem Kontext der Gruppe und Führer stammten, die ihm eine Heimat boten.
   
 
Im Zuchthaus konnte sich Höss bewähren, weil er dessen geschriebenes und ungeschriebenes Gesetzt erfüllte, weil er pflichtbewußt, ordentlich, zuverlässig seine Aufgaben erfüllte und als rechter politischer Gefangener viele Vorzüge genoß. Hier lernte Höss ein neues - für ihn späterhin ungeschriebenes - Gesetz kennen: Die Unterscheidung von menschlichem Abschaum und besseren Menschen. Er, der politische Gefangene, mußte sich von all den Kriminellen, Asozialen, von Verirrten, Leidenschaftlichen und Lasterhaften unterscheiden, deren Geschichten in ihm Abscheu und Ekel erregten. Höss hatte keinen Zugang zu den Leidenswegen anderer Menschen, er verspürte wenig Mitgefühl, sondern sah sich hier mit der Minderwertigkeit Anderer konfrontiert, die er andererseits benötigte, um sich als besser, als Mensch neben Tieren, zu fühlen. So klassifizierte er die Gefangenen in unterschiedliche Grade von Verdorbenen, von Schwachen usw., um sich ungeschriebene Gesetze über sie zu formulieren, Gesetze, die der sogenannte gesunde Menschenverstand hervorbrachte. Die Analogie zu Hitler liegt hier auf der Hand. (17) So unterschied Höss Berufsverbrecher aus Veranlagung oder Neigung, gestrauchelte und schwache Naturen, leichtsinnige und frivole Naturen, wankelmütige und schwankende Menschen, einen ganzen Kanon von Zuschreibungen, so wie sie der sogenannte gesunde Menschenverstand bisweilen bis heute zu formulieren weiß. Er aber war immer der bessere Mensch: fleißig, pflichtbewußt, ordentlich und sauber, gewissenhaft und pedantisch, ein vorbildlicher Gefangener. Im Grunde war er in seinem Bewußtsein gar kein Sträfling, weil seine Tat keine Tat war, die er zu bereuen hatte, sondern eine, die sein mußte, weil hier der Staat versagt hatte.
   
 
Im Zuchthaus bildete sich zunächst ein neues Weltbild bei Höss heraus: "Es gab für mich nur ein Ziel, für das es sich zu arbeiten, zu kämpfen lohnte, - der selbsterarbeitete Bauernhof mit einer gesunden großen Familie. Das sollte der Inhalt meines Lebens, mein Lebensziel werden." (Ebd., 53)
   
 
So wurde er Mitglied in der Bewegung der Artamanen. Nationalistische Jugendliche, die sich aus der vermeintlich ungesunden, unsauberen, zersetzenden und oberflächlichen Sphäre der Städte auf das Land zurückziehen wollten, um hier zu einer natürlichen Lebensweise ohne Nikotin und Alkohol, ohne Laster und Umtriebe zu finden, sammelten sich in dieser Bewegung. Hier lernte Höss seine spätere Frau kennen. Von dieser Idee des Blut und Bodens aus fand Höss zur aktiven SS. Auch Himmler war Mitglied der Artamanen gewesen. 1933 hatte Höss auf einem Landgut in Pommern SS-Reiter aufgestellt, Himmler wurde auf ihn aufmerksam und veranlaßte ihn, zur Verwaltung eines Konzentrationslagers zu gehen.
   
 
Auch hier wirkte ein ungeschriebenes Gesetz: Auch wenn Höss eigentlich auf dem Lande leben wollte, so war die Pflicht für das große Ganze, für das Unhinterfragbare oder das, das er nie, selbst nicht im Vaterhaus als das große Ganze zu hinterfragen gewagt hatte (18), stärker als ein eigenes, rudimentär bleibendes Wollen.
   
 
e) Massenmord als Pflicht: Über Dachau, wo er als Ausbilder tätig war, und Sachsenhausen, wo er Adjudant - eine Art Geschäftsführer des Lagerkommandanten - war, gelangte er nach Auschwitz, wobei er dieses Lager, das ein ungeheures Vernichtungslager wurde, 1940 bis 43 leitete. 1943 bis 45 wurde er Amtschef bei der Inspektion der Konzentrationslager.
   
 
Wenn man die Beschreibung seiner Tätigkeit in den Konzentrationslagern liest, dann fällt auf, daß Höss über Mord, menschliche Schicksale, über grauenvolle Taten und alle Gefühle hochschrecken lassende Ereignisse in einer neutralen oder scheinbar abgeklärten, buchhalterisch gründlichen und die wesentlichen Fakten der Vernichtungsmaschinerie berührenden Form schreibt, wobei diese Art der Darstellung eine neue Art von Grauen produziert. Für ihn als Lagerkommandanten ging es darum, irgendwie Stacheldraht zu besorgen - eine existentiell erscheinende Aufgabe -, die Krematorien so einzustellen, daß die Leichenberge endlich verschwinden konnten, daß ein zügiger Abgang erzielt wurde, um keinen Stau der ankommenden Häftlinge zu verursachen, daß alles möglichst reibungslos und in aller Stille vor sich ging, ohne gefühlsmäßige Eruptionen oder Zweifel, ohne übertriebene Härte oder dramatischen Aufwand. So kritisierte er viele SS-Leute, die den Gefangenen das Leben schwer machten, die sie quälten, und er verurteilte ihr barbarisches Verhalten. Anhand etlicher Beispiele charakterisierte er ihr barbarisches, unmenschliches, rohes und hinterhältiges Handeln, wohingegen er sein Auftreten als anständig, pflichtbewußt und seinen Einsatz im KZ als ungeeignet für seine Person beschrieb. Aber Höss fragte sich nicht, warum ausgerechnet er in diesem System Karriere machte, warum ihm die schwierige Aufgabe anvertraut wurde, eine Vernichtungsmaschinerie ohne ihresgleichen in Gang und Durchführung zu bringen, warum er als einer der verantwortlichen Massenmörder des Naziregimes an seiner schlimmsten Wirkungsstätte hingerichtet werden sollte. Er gebraucht keine Entschuldigungen, sondern beschreibt sich in seinen Charakterstrukturen, in Strukturen, die wie vom Himmel gefallen schienen, zu denen er kein willentliches Verhältnis mehr hatte:
   
  • bei ihm unsinnig erscheinenden Aufgaben wie der Bestrafung eigener Leute spricht er von "Selbstüberwindung und unbeugsamer Härte" (ebd., 74);
       
  • durch den Tod von Bibelforschern sieht er sich berührt, weil sie an die Aufnahme durch Gott glaubten und ihr freudig entgegensahen, aber er meint zugleich abwehrend zu wissen, daß die Feinde des Reiches solche Ideen zum Zwecke der Zersetzung unterstützten (ebd., 76);
       
  • wüste Verbrecher sah er auf einmal in ihrer Angst vor dem Jenseits zittern, hier keimt die Abschreckungsidee als ungeschriebenes Gesetz auf (ebd., 79);
       
  • Homosexuelle und Prostituierte sah er unter dem Blickwinkel der Umerziehung, er sah sich als eigentlichen Helfer, der weiß, wie die Natur zu funktionieren hat (ebd., 80 f.);
       
  • politische Häftlinge betrachtete er beim Sterben mit mehr Ehrerbietung als kriminelle Elemente (ebd., 103 f.);
       
  • Zigeuner bedauerte er fast in ihrem besonderen Elend (ebd., 109 f.);
       
  • Juden beschrieb er in ihrem besonderen Verhalten, wobei er zynisch genau jene Verhaltensweisen hervorhob, die sie nach dem ungeschriebenen Gesetz des vermeintlich gesunden Menschenverstandes als minderwertig und verwerflich ausrotten ließ (ebd., 111 ff.);
       
  • arbeitswillige Häftlinge sollten es bei ihm gut haben, aber meist zerstörten schlechte Wachen durch Beschränktheit, Verbohrtheit, Böswilligkeit oder Bequemlichkeit sein Ziel (ebd., 91 f.);
       
  • sein Fehler war es wohl, so gesteht er sich ein, sich nicht mehr mit den Häftlingen und ihren Bedingungen befaßt zu haben, aber dann hätte er sich nur mit ihnen befassen müssen und wäre seiner Aufgabe, Auschwitz als Lager aufzubauen, nicht mehr richtig nachgekommen; er mußte sich aber dafür aus Pflicht entscheiden (ebd., 96);
       
  • die Pflicht verhärtete ihn, er vermißte die kameradschaftlichen Bande, ertränkte seine Gefühle im Alkohol, der ihn wieder gesprächig und ausgeglichener werden ließ, aber seinen Pflichteifer nicht bremsen konnte (ebd., 98);
       
  • aber die Pflicht ließ ihn auch leben und viel leisten: "Selbst gehetzt durch all die Umstände" - besonders den politischen Druck - "hetzte ich alle mir Unterstellten, ob SS, Zivilangestellte, ob beteiligte Dienststellen oder Firmen oder ob Häftlinge, weiter. Es galt für mich nur noch eines: vorwärtskommen, vorwärtstreiben, um allgemein bessere Verhältnisse zu schaffen, um die befohlenen Maßnahmen durchführen zu können." (Ebd., 123 f.) Ein wesentliches Vorwärtskommen war durch den Einsatz des Gases erreicht, den Höss als Beruhigung beschrieb, denn er wußte zuvor nicht, wie er ordnungsgemäß eine Massenvernichtung "sauber" hätte durchführen sollen, wenn die Vergasung nicht als bequeme Methode herausgefunden worden wäre (ebd., 126 f.).
       
     
    Zu Hause war Höss der Biedermann. Gefangene pflegten sein Blumenparadies, das es seiner Frau und seinen Kindern erträglicher machen sollte, in Auschwitz zu leben. Kein Gefangener sei hier je mißhandelt worden, so schrieb der Massenmörder, und sein eigenes schlechtes Gewissen drückte er damit aus, daß er seit Beginn der Massenvernichtung im Lager "nicht mehr glücklich" war (ebd., 134). Und er entwickelte ein eigenes Schuldgefühl, mit der seine Berichterstattung über Auschwitz endet: "Heute bereue ich es schwer, daß ich mir nicht mehr Zeit für meine Familie nahm. Ich glaubte ja immer, ich müsse ständig im Dienst sein. Mit diesem übertriebenen Pflichtbewußtsein habe ich mir das Leben selbst immer schwerer gemacht, als es an und für sich schon war. Meine Frau hat mich oft und oft gemahnt: Denk nicht immer an den Dienst, denk auch an deine Familie. Doch was wußte meine Frau von den Dingen, die mich bedrückten, - sie hat es nie erfahren." (Ebd., 134)
       
     
    Ernst Federn, der mit Rudolf Höss in Dachau zusammengetroffen war, bezeichnete ihn als einen ruhigen, recht anständigen SS-Mann, der möglichen Verbesserungen im Häftlingsbereich durchaus aufgeschlossen gegenüberstand. (19) Aber Federn wußte zugleich, daß der Terror nicht nur von jenen Bestien ausging, die auch Höss verabscheute, von jenen Psychopathen, die direkt die Gefangenen mißhandelten und quälten. Die Gefahr, die von Höss ausging, war sogar ungleich größer, weil er nicht einzeln mordete, sondern dafür die, wie er sich ausdrückte, allgemeinen »Verbesserungen« durchführte, damit es alle leichter haben sollten. (20) Dabei mögen ihm durchaus Zweifel in seinem Handeln gekommen sein. Aber im Grunde zweifelte Höss nie am System des NS-Staates, an jenen ungeschriebenen Gesetzen, die der gesunde Menschenverstand herausgefunden hatte, der in den Thesen von Führer und Gefolgschaft, Rasse und Gesundheit, Blut und Boden, Volkszersetzung durch Fremde gipfelte. Zwar hielt er nach dem Krieg die Führung für schuldig, verbrecherisch und dumm gehandelt zu haben, aber auf friedlichem Wege, so meinte er, hätte man doch die "Erweiterung des deutschen Lebensraumes" erreichen können (ebd., 152). Die willenlose Masse, die kritiklos blieb, sieht er als eines der Probleme des NS-Staates, aber er schien demgegenüber etwas Besseres zu sein. Könnte er die Geschichte zurückdrehen, so würde er den Widerstand durch allgemein gute und vernünftige Behandlung der Bevölkerung herabmindern. Dann auch hätte man sich die KZs, es sei denn solche zur Umerziehung, ersparen können. Und was die Greueltaten in den KZs betraf, so hatte er keine Ahnung von dem Ausmaß, das nach dem Kriege deutlich wurde. Er billigte solch Verhalten nie persönlich, er selbst war auch niemals so grausam (ebd., 153). So hielt er seine Gedanken bis zum Schluß, bis zu seiner Hinrichtung, sauber. Zwei Leitlinien bestimmten sein Leben: sein Vaterland - mit all dem Nationalismus, den Idealen der NSDAP und SS, und seine Familie. Er verstand es aufgrund seiner hohen emotionalen Bindung an die Über-Väter seines Staates, kreativ ihre Forderungen mittels Disziplin, Pflicht und Einsicht umzusetzen, was ihn für Führungsaufgaben qualifizierte. Aus dieser Sicht wurden viele vermeintliche Mitläufer zu eigentlichen Betreibern des Terrors.
       
     
    Eine systemisch-konstruktivistische Pädagogik, das haben wir immer wieder deutlich zu machen versucht, betont die Beziehungsebene in kommunikativen und sozialisierenden Prozessen deshalb so stark, weil nur über sie vermieden werden kann, andere Menschen aus den Beobachtungen auszuschließen und zu Objekten zu machen. Die Biographie von Rudolf Höss zeigt auf exemplarische Weise, welche Mängel in den Beziehungen zur Erklärung seines Verhaltens herangezogen werden können. Die Aspekte, mit denen wir sein Verhalten beschrieben haben, entsprechen einem Verständnis von Beziehungen, das er in seinem Leben durch und durch gegensätzlich zu einer systemisch-konstruktiven Beobachterperspektive führte:
       
     
    - Fehlende Zärtlichkeit: Der Ausschluß der Beziehungsebene, die Vermeidung von Gefühlen, die Verhinderung, Selbstwertgefühle und Unsicherheit in pädagogischen Kontexten zu thematisieren, die Verweigerung nicht nur des Elternhauses, sondern auch der Pädagogik seiner Zeit, Beziehungen anders erleben zu können, bilden einen wesentlichen Hintergrund späterer Gefühllosigkeit, Abwehr des Mitmenschen, einer Beziehungslosigkeit, die vorwiegend inhaltsorientierte und einseitig symbolisierte Sozialisationserfahrungen weiterknüpft.
       
     
    Deshalb ist es der systemisch-konstruktivistischen Pädagogik wichtig, Beziehungen als mit Selbstwert und Gefühlen verbundene Prozesse wechselseitiger Anerkennung und gegenseitiger Verstärkung von Toleranz den Anderen gegenüber, die vor allem Offenheit von Blicken voraussetzt, zu entwickeln. (21) Höss hingegen wurde in dieser Hinsicht nicht gefordert, sondern auch von einer beziehungsvermeidenden Pädagogik auf die Inhaltsseite verwiesen.
       
     
    - Feuertaufen: Die traumatischen Prozesse insbesondere des Mordens wurden ebenfalls nicht auf der Beziehungsseite verarbeitet, sondern inhaltlich verdrängt: als kriegerische Leistung, als Heldentum, als Anerkennung durch den Staat, das Vaterland, als würde es sich bei diesen Abstraktionen und Projektionen um Beziehungen handeln. Der Beziehungsverlust verdeckt den Mord, der Soldaten auszeichnet, er verschweigt das Trauma, um so immer neue Schrecken zu erzeugen.
       
     
    Pädagogen standen auch nach dem deutschen Faschismus eher fasziniert vor den Qualitäten von Feuertaufen, statt sie systematisch zu dekonstruieren. Aber weder in Ost noch West wollte man das freigeben, was pädagogisch auf dem Spiele stand: Das Wissen um die Wahrheit bestimmter Taten, die Begeisterung für Helden, weil man immer noch Pazifismus und ein Denken, das Aufhören will, immer Sieger zu sein, verabscheute. Es paßte weder in das Zeitalter des kalten Krieges noch in ein Denken der Moderne, das den Schrecken benötigt, um sich eine Beschleunigung von Entwicklung hin zu einem »wirklich« Besseren zu suggerieren.
       
     
    Eine systemisch-konstruktivistische Pädagogik kann und wird hier nicht mittun. Sie akzeptiert zwar die Konstruktivität von Weltbildern, kann sich aber dann nicht konsequent für nur eines entscheiden, das ihre Beobachtermöglichkeiten dann rigide beschränken will. Zwar wird auch der Konstruktivismus vor die Wahl alltäglicher und politischer Entscheidungen gestellt, aber die Freiheit des Beobachters gilt ihm so viel, daß er lieber eine widersprüchliche Pluralität von Meinungen erträgt, als die Tyrannei der einen Meinung, die als Konstrukt für alle herhalten soll. Und deshalb lehnt dieser Ansatz auch Feuertaufen ab, weil sie den Beobachter in ein traumatisches Wagnis stürzen, das er selbst weder autonom noch mit hinreichenden Freiheitsgraden abwehren kann, da er gerade hier der Autonomie als Basis freier Konstruktion beraubt wird. Teilnehmer an Feuertaufen werden systemisch vergewaltigt, indem sie als Opfer oder Täter zirkulieren, um den Machtgewinn Anderer abzustützen. Deshalb scheint es mir sinnvoll, daß jeder, der systemisch und konstruktiv an die Welt herangeht, sich den Feuertaufen und ihren Institutionen - insbesondere dem Militär - verweigert. Zur systemisch-konstruktiven pädagogischen Arbeit aber gehört es, diese Verweigerung als Dekonstruktion insbesondere solcher Entwicklungen zu zeigen, die wie bei Höss zu Völkermord führten, damit Auschwitz nie wieder sei. Damit werden solche Institutionen, die Gehorsam verlangen, auch bis heute kritisch befragt werden müssen: Ist ihr Gehorsam noch durch Menschenrechte konkret dekonstruierbar, d.h. kann ich auch in ihnen mich verweigern, wenn es gegen die Menschenrechte oder mein Gewissen geht? Oder verlangen sie blinden Gehorsam? Dann können wir uns nicht nur verweigern, sondern müßten sie aktiv verändern, bekämpfen.
       
     
    - Vatersuche und Untertänigkeit: Je mehr ich mich als Beobachter Anderen unterwerfe, und dies hat ebenfalls nicht nur mit dem Elternhaus, sondern auch mit Pädagogik in einer Gesellschaft zu tun, um so höher ist die Gefahr, nach Urvätern oder Führerfiguren zu suchen und sich blind einem System zu unterwerfen. Eine systemische und konstruktivistische Sichtweise bekämpft dies in allen Lagen und unter allen Umständen, indem sie Beobachtervielfalt, Beobachterunterschiede, Beobachterwechsel zuläßt und fordert. Sie stärkt die Selbstbehauptung von Beobachtungen, ohne sie zugleich einer imaginären Instanz als Letztentscheidung überantworten zu wollen.
       
     
    - Ungeschriebene Gesetze: Deshalb lehnt sie ungeschriebene Gesetze als kausale Legitimation menschlicher Handlungen ab. Es gibt aber nicht eine überlegitimierte Herkunft bestimmter wahrer Gedanken, die einzelne Menschen für sich pachten können. Wenn es der Pädagogik gelingt, dies allen Lernern in ihrer re/de/konstruktiven Tätigkeit klar werden zu lassen, dann wird ein hinreichender Stachel gegen alle jene Versuche gelegt werden können, die die Welt auf ein Bild hin vereinfachen, um daraus bestimmten Nutzen zu ziehen.
       
     
    - Massenmord als Pflicht: Dann kann sich die blinde Pflicht nicht entfalten, sondern wird Widerstand erzeugen. Gleichwohl ist eine innere Einsicht dann aber nicht unbedingt Garant einer aktiven Abwehr solcher politischen Versuche, den Beobachter wieder blind zu machen und einem System tyrannisch einzuverleiben. Gerade Konstruktivisten mögen in solchen heiklen politischen Situationen zu hilflos sein, weil sie allen Beobachtern noch ein zu großes Recht auf Durchsetzung ihrer Sichtweise geben, damit aber auch jene bevorrechtigen, die sie zu gegebener Stunde umbringen werden. Vielleicht taugt der Konstruktivismus daher auch nur in Zeiten einer relativen demokratischen Sicherheit, in der Beobachter in Pluralität sich artikulieren können, aber nicht mehr in Phasen von menschenrechtsverachtender Herrschaft und Gewalt, nicht bei Terrorregimen, die Gegengewalten erfordern, wenn wir sie denn ändern wollen.
       
    4. Das Beziehungsgeflecht von Opfern und Tätern Seitenanfang
       
     
    In Rekonstruktionen, die sich mit dem Thema KZ beschäftigen, dominieren entweder Blickweisen auf die Opfer, wie auch wir es eingangs unternommen haben, oder Abrechnungen mit Tätern, für die eben Rudolf Höss exemplarisch stand. Und dennoch bleibt diese isolierende Sicht recht unbefriedigend. Sie schützt uns auf der Inhaltsseite, mit der wir distanzierend das Furchtbare zu begreifen versuchen, vor der Beziehungsseite, von der wir wissen, daß es kein Opfer ohne Täter und keinen Täter ohne Opfer gibt. Bettelheim und Federn kommen bei ihrer versachlichten Darstellung der Psychologie der Extremsituation bzw. des Terrors aber zu Beschreibungen, die wir auch als Ausdruck einer systemischen Sicht begreifen können. Systemisch meint hier, daß weder Opfer noch Täter für sich betrachtet werden und daß immer deutlich bleibt, daß ein äußerer Beobachter spricht. Dabei dürfen die Ebenen der Betrachtung aber nicht verwechselt werden. Alle Opfer unterlagen einem brutalen Fremdzwang, der durch die Umgebung des Lagers, durch die Ideologie der Wachen, durch das gesellschaftliche System der Zeit gegeben war. Dieser äußere Druck hatte ihnen die Freiheit genommen. Er zwang sie zu inneren Entscheidungen, zur Verinnerlichung in einen Selbstzwang, den sie freiwillig nie eingegangen wären. Aber nun einmal in der extremen Situation gefangen, können und sollten wir sie in den Mustern dieses Zwanges betrachten. Umgekehrt war es zwar auch für den SS-Mann nicht einfach möglich, seine Position ohne Schaden aufzugeben, aber seine Möglichkeiten, eine andere Tätigkeit als die des Terrors auszuüben, waren nicht so eingeschränkt wie die der Häftlinge. Auch wenn er als Teil des politisch-totalitären Systems Gefangener war, so war er mehr Gefangener eigener Wahl als die Häftlinge.
       
     
    Als Beobachter versuchen wir mit solchen einleitenden Sätzen für uns den Schrecken zu relativieren. Wir suchen Ideen für eine Wirklichkeit, die letztlich unvorstellbar bleibt. Federn (1989) machte besonders auf die atavistischen Triebe des Menschen aufmerksam, auf seine Aggressionen, die in den Taten der SS erscheinen. Sie dienen dazu, Angst bei den Häftlingen hervorzubringen, Macht zu gewinnen, Menschen zur Regression zu zwingen, sie zu demütigen, ihre seelische Widerstandskraft zu brechen. Nun wäre es zu einfach, die SS als die böse Seite und alle Häftlinge als die gute Seite zu beschreiben. Aus psychoanalytischer Sicht wird die Debatte um Gut und Böse stark entmoralisiert und der Blick frei sowohl für die inneren und äußeren Verhältnisse eines Opfers oder Täters als auch für die systemische Wechselwirkung zwischen beiden. Sowohl die Arbeiten von Bettelheim als auch von Federn sind hierfür ein deutliches Beispiel.
       
     
    Allerdings gebrauchen die psychoanalytisch orientierten Autoren den Begriff systemisch nicht. Ich möchte ihn hier verwenden, um auf mindestens dreierlei aufmerksam zu machen:
    1) Es gibt bei der Beschreibung von Verhalten - auch im Konzentrationslager - nicht nur eine Seite des Aktiven und eine des Passiven, sondern ein besonderes Zusammenspiel in der Interaktion und Kommunikation von Opfern und Tätern, wobei Aktivität und Passivität, äußerer Druck und innerer Druck - bzw. andere Beschreibungskategorien, die wir anwenden - wechseln können;
    2) dieses Zusammenspiel folgt bestimmten Regeln, die sich für das System des Zusammenwirkens bezeichnen lassen;
    3) es bedarf der ausgewiesenen Rolle eines Beobachters, solche Regeln zu (re)konstruieren - gleichgültig ob er Teil des beschriebenen Systems oder Außenstehender ist.
       
     
    Wenn wir Bettelheims und Federns Analyse den nachfolgenden Aussagen zugrunde legen, dann beziehen wir uns als Außenstehende auf Beobachter, die Teile des Systems waren, das sie beschreiben.
       
     
    Bettelheim versteht es, die Fragen nach dem Zusammenwirken im System von Opfern und Tätern - nachfolgend auch als systemisches Zusammenwirken bezeichnet - von zwei Gesichtspunkten aus differenzierend zu beantworten. Das Verhalten in Extremsituationen unterliegt einerseits dem Zwang und andererseits der Abwehr. Beide greifen ineinander und lassen sich nicht voneinander trennen, die unterschiedenen Aspekte dienen uns jedoch dazu, Extremsituationen psychologisch besser zu verstehen.
       
     
    Die Nazis verstanden es geschickt, die durch ihre Barbarei erzeugten Aggressionen bei den Gefangenen auszunutzen, indem sie sie gegen die Häftlinge selbst wendeten. Die masochistische, passiv-abhängige, regressive Verhaltensweise der Häftlinge wurde durch und durch gestärkt, was umgekehrt dazu führte, daß der aggressivere SS-Mann sich sicher gegen Auflehnung wähnen konnte. Dies bedeutete, daß Häftlinge in kindliche Hilflosigkeit und Abhängigkeit gebracht werden mußten, so daß sie weder über die Alltäglichkeiten des Lebens bestimmen konnten noch ihrer eigenen Zukunft unabhängig von der SS sicher sein durften. Das Erziehungsmittel ständiger Angst, die durch reale Traumata erhärtet und am Leben erhalten wurde, vermittelte sich größtenteils über Sprache. Drohungen waren im KZ der allgegenwärtige Begleiter jeder Handlung. Dabei dominierte die Analsphäre in Schimpfwörtern - "Arschloch" und "Stück Scheiße" waren Anredeformen, die von den Häftlingen selbst angenommen wurden. Wer außerhalb der festgesetzten Zeiten zur Latrine mußte, der war von der Laune der Wache abhängig. Vielfach wurden sinnlose Arbeiten dazu benutzt, den Willen zu brechen. Älteren Gefangenen wurden eher sinnvollere Arbeiten zugestanden, weil ihre Anpassung weiter vorangeschritten war. Alle Versuche der SS zielten darauf ab, die Selbstachtung zu brechen und die Regression zu fördern. Der äußere Zwang wurde im Lager in innere Zwänge umgesetzt. Dieser doppelte Charakter des Zwanges bedingte eine komplizierte Dialektik der Begegnung von Opfern und Tätern.
       
     
    Beispielgebend ist für Bettelheim an dieser Stelle sein eigener Versuch, ins Krankenrevier zu kommen, um Erfrierungen behandeln zu lassen. Er stand mit mehreren Gefangenen vor einem SS-Mann, der über die Zulassung entschied. Die Gefangenen machten sich Gedanken, legten sich Strategien zurecht, wie sie am besten eine Zulassung erreichen könnten. Einige verwiesen auf ihre Dienstzeit in der deutschen Armee, andere auf Wunden, die sie für das Vaterland erlitten hatten, andere auf die Schwere ihrer Krankheiten. Bettelheim hielt es nicht für klug, sich vorher einen Plan zu machen, was seine Mitgefangenen ärgerte, da sie dachten, daß er sich einen besonders guten Trick ausgedacht hätte, um den bösen und dummen SS-Mann auszuspielen. Bettelheim hingegen war davon überzeugt, daß ein SS-Mann keineswegs gleich wie ein anderer ist, daß damit die Reaktion situationsabhängig zu beurteilen wäre. Als er an die Reihe kam, schrie ihn der SS-Mann sofort an, daß Juden nur bei Arbeitsunfällen ins Revier könnten. Er war durch die Geschichten der anderen Gefangenen verärgert. Bettelheim brachte sachlich vor, daß er mit den Erfrierungen nicht arbeiten könne, daß daher das tote Fleisch abgeschnitten werden müßte. Daraufhin folgte der SS-Mann einem zunächst sadistischen Impuls und versuchte selbst, die eitrige Haut abzuziehen. Da dies nur schwer gelang, entließ er Bettelheim ins Revier, um ihn dort aber scharf zu beobachten. Nur weil er dort seinen Schmerz unterdrückte und sich anschließend anschickte, das Revier zu verlassen, durfte er ausführlich behandelt werden; er erhielt jetzt sogar eine Karte zur Weiterbehandlung der Wunde.
       
     
    Bettelheim analysiert dieses Beispiel ausführlich. Der SS-Mann als Aggressor, als Täter, und das Opfer verhalten sich in einem wechselseitigen Kontext. Das Opfer baut seine Argumentation folgendermaßen auf: Es ist durch Fremdzwang in das Lager gekommen. Es muß sich in Gegenreaktionen immer gegen die Gefahren des Fremdzwanges verteidigen. Es hat den Fremdzwang der SS hart als Einstieg in sein Gefangendasein erfahren, denn die größten Grausamkeiten geschehen bereits auf dem Transport, damit das Selbstverständnis zutiefst erschüttert wird. Die SS quälte die Gefangenen hier systematisch, zögerte den Transport hinaus, um jeden Gefangenen in irgendeiner Form physisch und psychisch zu verwunden. Ziel dieses Prozesses war die Verinnerlichung der Abwehrreaktion der Angst durch Anpassung an alles, was gefordert wird: blinder Gehorsam. Resultat der hier gemachten Beobachtungen ist ein SS-Mann, der als individuelle Person seine Konturen verliert und vorrangig als brutaler und gefühlloser Gewaltmensch gesehen wird. Der Täter hingegen verteidigt sich aus seiner Beobachterperspektive stärker gegen Gefahren, die in ihm selbst liegen: Häufig eine eigene Angstabwendung durch Projektion auf Führerfiguren, die als Vaterersatz für eigene ichschwache Anteile gelten können. Deshalb unterwirft er sich aus Selbstzwang. Er begibt sich in seiner Beobachterrolle in Abhängigkeit von den Gewissheiten seiner Führer. In diesem Wahrnehmungskonstrukt nun erscheinen schwache und jammernde Juden, die Einlaß in ein Lazarett begehren, aber wahrscheinlich Betrüger sind. Kommen unter diesen unterschiedlichen Perspektiven Opfer und Täter zusammen, so ergibt ihre Kommunikation eine Eskalation des Verhaltens.
       
     
    Betrachten wir das Zusammenspiel, das sich hier ergibt, aus einer konstruktivistischen Perspektive, so stehen wir zunächst vor einer Schwierigkeit. Wenn Subjekte je ihre eigene Wirklichkeit konstruieren, dann werden die meisten von uns Abscheu dabei empfinden, sich solch eine Wirklichkeit wie ein KZ konstruieren zu wollen. Wir flüchten in die Position der Rekonstruktion, lassen uns hier lieber von Anderen belehren und entdecken das, was gewesen war, statt es erfinden zu wollen. Aber so einfach geht das nicht. Selbst Bettelheim und Federn, obwohl sie Augenzeugen waren, kommen nicht umhin, ihre Perspektive der von ihnen erfahrenen Wirklichkeit zu re-konstruieren und dabei zugestehen zu müssen, daß es nicht die eine Erfahrung KZ gibt. Sehr unterschiedlich fällt dieses KZ aus, wenn wir die Perspektiven wechseln. Und dies ist ja auch bereits in unserer Analyse geschehen, wenn wir zunächst auf die Opfer sahen und dann den Blickwinkel auf die Aussagen eines der Täter richteten. Schon unsere ersten Worte über die realen Vorgänge rationalisieren etwas, was nicht real nacherlebt werden kann, sondern auf die konstruktive Seite unserer Imaginationen setzt und an unser Mitleiden appelliert.
       
     
    Trotz der Unterschiedlichkeit der Perspektiven gibt es aber auch Grenzen konstruktiver Freiheit. Gerdae konstruktivistisch stellt sich dann die Frage: Sind wir wirklich frei, jedem seinen Zugang zu dieser Konstruktion von Wirklichkeit zu gewähren, oder muß man das Thema KZ in spezifischer Weise untersuchen? Darf hier jeder schwätzen und munter konstruieren, wie es ihm gefällt, oder begrenzen wir mit radikaler Macht das Thema, wenn etwa jemand von der Auschwitz-Lüge spricht? Was antworten wir dem, der sagt, daß es keine Judenvergasung gab und uns auffordert, daß wir doch nur einen Augenzeugen der Vergasung benennen, wo es ja gerade Ziel der Vergasung war, alle Augenzeugen zu beseitigen? Es ist völlig klar, daß hier jegliche konstruktive Freiheit durch eine rekonstruktivistische Verständigungsgemeinschaft eingeholt wird: Jene uns bekannten oder zur Kenntnis zu nehmenden Rekonstruktionen dieses Schreckens reichen für alle Teilnehmer aus, ihren abwehrenden Erfindungsreichtum zu bremsen und den imaginativen im Sinne von Mitleiden zu erhöhen. Aber dies ist bloß eine allgemeine Formel für ein ethisches Postulat, das längst nicht alle Menschen mehr erreicht. Und gerade deshalb ist bei einer konstruktivistischen Einstellung es ein oberstes Erziehungsziel, daß nie wieder Auschwitz sei. Dies findet seinen wesentlichen Punkt im menschlichen Leiden, das hier erzeugt wurde, seinen unwesentlichen in dem Umstand, daß gerade Konstruktivisten Menschen sind, die Andersdenkenden - also anderen Konstruktionen von Wirklichkeit - grundsätzlich offen gegenüber auftreten.
       
     
    Nun wird zu recht gegen Konstruktivisten eingewandt, daß nicht alles in der Welt eine Konstruktion von Wirklichkeit durch beliebige Beobachter sein kann, daß es mit anderen Worten Grenzen des Menschlichen und Maßstäbe menschlichen Verhaltens geben müßte. Dies kann kein Konstruktivist bestreiten. Dort, wo wir Gewalt erscheinen sehen, wo Mittel des Terrors zum Einsatz gegen Menschen kommen, wird es keine Entschuldigung jeglichen Verhaltens geben dürfen, auch wenn man erkenntnistheoretisch erkennen und beschreiben kann, daß jeder zu seiner Konstruktion von Wirklichkeit kommt. Die Beschreibungen eines Rudolf Höss sind zwar sein Konstrukt seiner Wirklichkeit, aber niemand zwingt uns, ihnen zu folgen. Nein, der Zwang geht vielmehr in eine andere Richtung: Wir sind gezwungen, alles das zu dekonstruieren, was uns den Schrecken verstellt, was uns das Leiden verniedlicht und rationalisiert, was uns das Unfaßbare leichthin faßbar und distanzierbar machen will. Aber als Konstruktivist kann ich diesen Zwang nur als Konstrukt meiner Wirklichkeit aussprechen und vertreten, ich kann es nicht erzwingen, sondern hoffe auf Einsicht und Verständigung in einer Gemeinschaft, die sich den Menschenrechten mehr als allen anderen Rechten verpflichtet.
       
     
    Wenn wir dies einsehen, dann wird eine weitere Folgerung zwingend. Damit nie wieder Auschwitz sei, muß der Sinn dieses Satzes, dieses Konstrukts von Wirklichkeit, für jeden, der den Satz für sich zwingend akzeptieren und erleben will, Teil seines verstehenden und erklärenden Bewußtseins werden. Dies aber erreiche ich dann am deutlichsten, wenn ich die Bedeutung und die Gefahr - wenn nicht schon das reale Leiden - für mich entdecke und (er)finde. Und deshalb ist es sinnvoll, die Beobachterperspektive nicht bloß auf die Opfer oder die Täter zu richten, sondern die Wechselwirkung beider zu beobachten, weil dies ein Muster, ein wiederkehrendes Konstrukt in der Wirklichkeit ist, dem auch wir jederzeit an unterschiedlichsten Orten unserer gegenwätigen Welt begegnen können und vor dem wir in Zukunft nicht gefeit sind.
       
     
    Deshalb wollen wir jetzt das Beziehungsgeflecht und seine systemischen Wirkungen zwischen Opfern und Tätern näher betrachten. Unter Aufnahme und Erweiterung der aus den "Studien über den autoritären Charakter" bekannten Variablen (vgl. Adorno 1973) will ich, indem ich die von Bettelheim und Federn benutzten Beschreibungen verwende, einen systematisierten Abriß mir wichtiger Analysepunkte vorstellen (vgl. auch Reich 1993, 1994), der maßgeblich bei jeder Entwicklung einer Psychologie der Extremsituation oder des Terrors sein dürfte. Diese Analyse nennt Beobachterkategorien, auf die wir achten sollten, wenn wir uns systemisch mit Opfern und Tätern in jeglichen Formen des Terrors beschäftigen.
       
      a) Regression
       
     
    Es ist das wesentliche Ziel jeder terroristischen Maßnahme, in einer Extremsituation die Opfer zu Regressionen zu zwingen. Sie sollen auf eine Stufe der Kindheit zurückfallen, um so besser beherrschbar zu sein, ihre Abhängigkeit selbst in elementarsten Lebensbedürfnissen zu zeigen und Gewalt und Willkür ohne Ausweg ertragen zu müssen. Die oben beschriebenen Terrormittel werden systematisch eingesetzt, solche Regression zu erreichen und zu sichern. Der Gefangene lebt, wie Bettelheim sich ausdrückt (1989, 186), nur in der unmittelbaren Gegenwart, er verliert sein Zeitgefühl und seine Planungen beschränken sich auf die Sicherung der elementarsten Lebensdinge: essen, schlafen, ausruhen. Regressionen führen zu einer Betonung anal-sadistischen Verhaltens, der erfahrene Terror schlägt um in Aggressionen gegen Mitgefangene, eine anal gefärbte Sprache dominiert, sie wenden sich gegen das Subjekt selbst. Die Wachen und Folterknechte erzwingen regressives Verhalten, das Ich muß sich daran anpassen, wenn es überleben will, was eine Abwehrleistung hervorbringt, die all jene Impulse unterdrückt, die Regression vermeiden wollen, so daß die Selbstachtung abnimmt. Schließlich kontrolliert eine regressive Gefangenengruppe sich gegenseitig, weil sie aus Angst vor kollektiver Bestrafung nur das zu leben erlaubt, was als Fremdzwang Gültigkeit zu haben scheint - was aber durch die aufgerichteten inneren Zwänge noch eine Verschärfung der Fremdzwänge bedingt.
       
     
    Die SS-Männer oder Terroristen allgemein - denn Extremsituationen oder Terror lassen sich nach Bettelheim und Federn nicht auf die Nazizeit beschränken, sondern gelten für alle Diktaturen oder unterdrückenden Systeme - unterliegen ihrerseits auch einer Regression. Federn beschreibt eine typische Karriere einer SS-Wache: eigentlich gutmütiger, anständiger Durchschnittsmensch, jahrelang arbeitslos, suchte verzweifelt Arbeit, trat in die SS ein, um seine Familie zu ernähren. Nun unterliegt er einem Zwang seiner Gruppe, die jedes Ausscheren beunruhigt, was sie zu Verfolgungen in den eigenen Reihen veranlaßt. Auch wenn er nicht mit allem einverstanden ist, was die SS tut, so kann er sich nur schwer aus diesem Zwang befreien. Der Zwang ist aber andererseits auch eine Kompensation eigener Ich-Schwäche durch Delegation eigener Entscheidung und Verantwortung an eine Organisation, einen Führer. Bettelheim sagt hierzu: "Ein Über-Ich, das persönliche Verantwortung und Entscheidungsfreiheit für einen fordert, kann unangenehme, ja bedrohliche Züge annehmen, da man sich nie völlig sicher sein kann, ob man das Richtige tut. So aber entsteht der Wunsch, daß einem gesagt wird, was man tun soll. Befehlsgehorsam enthebt einen einer inneren Entscheidung, die zu Konflikten führen könnte und später entweder verinnerlichte Schuldgefühle oder aber - in einem totalitären Staat - die reale Gefahr der eigenen Vernichtung nach sich ziehen kann. Wenn wir dagegen lediglich Forderungen erfüllen, die uns von außen auferlegt werden, können wir uns frei von Schuld und sicher fühlen." (Bettelheim 1990 a, 344 f.)
       
     
    Gehorsam als vermeintliche Tugend bedingt eine autoritäre Unterwürfigkeit, die sich bedingungslos allen Zielen stellt und diese akurat umsetzt. So war der SS-Mann - auch wenn er nicht von vornherein mit sadistischen Zügen und perversen Ansprüchen in seine Organisation eingetreten war - durch sein regressives Verhalten als Täter zugleich Opfer eines totalitären Systems, das ihn ebenfalls seiner Freiheit beraubt hatte. Bettelheim beschreibt die fatale Regressionsleistung in ihrem systemischen Zusammenwirken: Der gehorsame Diener Hitlers - verkörpert durch die SS - und der Häftling, der sich seinem Schicksal ergab und zur Gaskammer trottete, sie beide sind Produkte des totalitären Staates. "Der entlohnte Knecht und der ermordete Häftling - beide hatten ihren freien Willen eingebüßt" (Bettelheim 1990 a, 276).
       
     
    Federn gebraucht ein zweites Beispiel: Ein junger Raufbold, Trinker, begeisterter Jäger schließt sich einem Rollkommando an, wo er als Soldat auf Befehl rauft, schießt, tötet. Als Mitglied der SS wird er KZ-Wächter. Aber die religiöse Erziehung seiner Kindheit läßt Schuldgefühle in ihm keimen, trotzdem muß er wie aus innerem Zwang weiter schießen und töten. Dann wurde das Schießen auf Menschen verboten, weil man sie vergaste und vergiftete. Er lenkte seine Wünsche um und schoß als Jäger wieder auf Tiere. Als auch das verboten wurde, handelte er das erste Mal gegen den Befehl, wurde ertappt und sollte bestraft werden. Dieser Bestrafung entzog er sich durch Selbstmord. Dieser Psychopath, so Federn, ist ebenso wie das erste Beispiel ein Extrem - zwischen diesen Extremen gab es Übergänge, die im wesentlichen auf das Gleiche hinauslaufen: "Entweder wird das Verbrechen durch die staatliche Befehlsgewalt erzwungen oder innere, zum Verbrechen führende Instinkte werden durch den Befehl von oben gebilligt oder gedeckt." (Federn 1989, 68)
       
     
    Hier stellt sich die Frage, ob die Rede vom Befehlsempfänger nicht nur eine Ausrede ist. Sie muß nach Federn notwendig mit einer zweiten Frage ergänzt werden: Ist jeder Mensch tatsächlich imstande, zum Gewalttäter zu werden, wenn die Umstände dazu günstig sind?
       
     
    Bettelheim und Federn beantworten diese Frage unterschiedlich. Während Bettelheim stärker auf die Ich-Seite des Individuums eingeht und hervorhebt, daß dieses eine Schwäche vorweist, die bewußt bekämpft werden kann, erörtert Federn die Sachlage eher von der klassischen Psychoanalyse her und stellt hier die Triebtheorie in den Mittelpunkt. Der nach Freud neben dem Sexualtrieb - Eros - wirkende Todes- oder Aggressionstrieb - Thanatos - behauptet, daß atavistische Triebe einen Teil im Menschen repräsentieren, der für sein Leben notwendig ist. Dieser unbewußte, dem Ich nicht direkt zugängliche Teil, wird in seiner Wendung nach außen für Beobachter z.B. als aggressive, bemächtigende, aneignende oder - wenn man in anderer Terminologie spricht - egoistische Kraft erlebt. Da es sich um einen Trieb handelt, vermeidet die psychoanalytische Sicht eine Wertung und Moralisierung des so bedingten Verhaltens. In der Kultur sind beide Triebe gebremst, beherrscht, soweit dies ohne Schaden möglich ist, durch die Über-Ich-Instanz reguliert, die sich im Laufe der Kindheit herausgebildet hat und in der Pubertät ihre feste Form annimmt. Abweichungen von gesellschaftlich oder kulturell anerkannten Normen sind möglich, weil jede individuelle Entwicklung anders verläuft. Perversionen, Sadismus und all der Einsatz von Terrormitteln sind ohne eine Erklärung aus Störungen im menschlichen Entwicklungsprozeß der Täter schwer begreiflich. Aber dieses Begreifen bedeutet keine Verurteilung im Schema von Gut und Böse, sondern das Erkennen von Abweichungen im Verhalten. Eine Gesellschaft verfolgt in der Regel solche Abweichungen, was den Druck auf das Über-Ich erhöht. Wenn nun aber der Staat, einen pathologischen Führer an der Macht (22), dieses duldet, dann werden regressive Anteile in einem Ausmaß freigesetzt, die alle möglichen Sadismen, Perversionen, Phantasien hervorbringen, von denen der triebbeherrschte Mensch nicht einmal zu träumen wagen würde, weil ihm schon seine Traumzensur solcherlei Regression zerstören müßte. Zwar ist Regression auf frühkindliches Verhalten bei Erwachsenen durchaus für kürzere Zeiten normal, aber das Zurückgehen auf das atavistische Verhalten einer kindlichen Phase, die Sadismus noch nicht im Blick auf kulturelle Grenzen begreift, die damit, so Federn, sich durchaus begrenzt asozial und kriminell auszudrücken vermag, ist als immer wiederkehrende und dauerhaft auftretende Handlung des Erwachsenen als pathologisch anzusehen (vgl. dazu Federn 1969). Regression ist damit kein eigentliches Zurück in die Kindheit, sondern ein symbolisches Schema der Entlastung. Der sich zivilisiert gebende Mensch benötigt dies auch, wenn er in kleineren terroristischen Akten, wie sie beim Boxen, Ringen, aber auch anderen Sportarten wie Fußball auftreten, die "kulturerlaubte Seite des Sadismus" (Federn 1989, 70) zur Schau stellt. Die Ursache solchen Sadismus ist die gleiche wie bei den nur größer freigesetzten Regressionen in wirklichen Terrorsituationen, der Unterschied besteht im Ausmaß der Extremsituation, in der erhöhten Brutalität des äußeren Zwanges, in der verbindlichen Erklärung solcher gesellschaftlicher Regression als Normalität, d.h. in der Umwandlung dessen, was wir als Zivilisation bezeichnen, in die reine Barbarei. Solche Regression muß angeleitet werden und findet hier ihre Verbrecher. "Eine der vielen Methoden, die SS-Leute zu den Gewalttaten zu erziehen, war etwa die folgende: Man läßt eine Kompanie sonntags statt des gewohnten Ausgangs zum Dienst antreten, um Häftlinge bei einer Strafarbeit zu beaufsichtigen. Dabei wird bei der Befehlsangabe gesagt, daß es sich um lauter kriminelle Juden handle, die arische Mädchen vergewaltigt und sich nun auch im Lager starfbar gemacht hätten. Ich meine, jede Kompanie junger Soldaten, empört über die vermeintlichen Verbrecher und noch mehr über den verpatzten Sonntag, hätten in gleicher Weise reagiert wie die SS-Kompanie es in solchen Fällen natürlich tat." (Ebd.)
       
     
    Die SS-Leute ihrerseits unterlagen der Einsperrung durch Kasernierung, auch sie waren ihrer Freiheit eines Stückes beraubt und rigiden Gemeinschaftsnormen unterworfen, was regressive Tendenzen förderte. Dies entschuldigt kein Handeln, denn schon die Maxime der SS, alles zu verschweigen und jede Greueltat prinzipiell abzuleugnen, zeigt das indirekte Eingeständnis von etwas Furchtbaren, das dem Vergessen, Verdrängen, Verleugnen überantwortet wurde.
       
     
    Im systemischen Zusammenwirken beider Regressionsseiten wird Verständigung dadurch unmöglich gemacht, daß die wechselseitige Behauptung einer Ursachenzuschreibung (der Andere ist schlecht etc.) den Blick dafür nimmt, sich selbst als Gefangenen im Banne regressiver Tendenzen zu sehen. In der Interaktion von Täter und Opfer verstärken sich dabei die regressiven Tendenzen: Die Eskalation der Gewalt in den Lagern zwingt die Gefangenen in immer regressiveres Verhalten, die SS in die Behauptung einer "Endlösung", die sie auf Befehl in pedantischer Kleinlichkeit durchführt. Die Autobiographie des Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höss, und der Prozeß gegen Eichmann zeigen eindringlich dies regressive Verhalten (vgl. Bettelheim 1990 a, 266 ff.; Federn 1969). Daß hierbei auch Delegationen durch die eigene Sozialisation betroffen sind, zeigen die Arbeiten von Stierlin (bes. 1975, 1982) anschaulich. Das Verhalten von Höss ist ohne seine regressive Suche nach Unterordnung unter ein großes Abstraktes, Ganzes, Völkisches, das sich in bestimmten Führern inkarniert hat, gar nicht zu begreifen.
       
      b) Identifikation
       
     
    Wenn Regression eine Fluchtmöglichkeit für den Gefangenen ist, sein Leid zu ertragen, dann beschreibt Federn eine zweite, die in der Anpassung liegt. Die hauptsächlichste Form solcher Anpassung ist "die Identifizierung mit demjenigen, der die Leiden verursacht." (Federn 1989, 71) Dies mag befremdlich erscheinen, ist aber eine in vielen Bereichen beobachtbare menschliche Handlung. So hatte z.B. Anna Freud darauf verwiesen, daß es eine Abwehrbewegung beim Kind gibt, das sich mit einem gefürchteten Wesen, etwa einem Hund, identifiziert, indem es ihn spielt, um seine Angst zu überwinden. Die Menschen muten sich sehr oft Horrorszenarien - etwa in Filmen - zu, um sich damit zugleich über solche Schrecken zu erheben, sie zu distanzieren.(23)
       
     
    Die Lagerleitung nutzte die Tendenz zur Anpassung vielfältig aus, indem sie Gefangene als Unteraufseher mißbrauchte und zynisch ausnutzte, ohne daß diese sich über die psychischen Mechanismen klar werden konnten. Federn nennt insbesondere Übertragungszusammenhänge, die hier wirkten. Das Interesse an der gemeinsamen Abwicklung von Aufgaben, etwa der Arbeit der Gefangenen oder der Organisation des Lagers, ließ nicht nur strafende und folternde SS-Männer auftreten, sondern auch solche, die unbewußte Bindungen an die Gefangenen herzustellen wußten, indem sie die gemeinsame Sache, das, was notwendig war nach den Regeln, die sie ja auch nicht gemacht hatten, betonten. "Diese Identifizierung konnte Demütigungen, peinliche Arbeiten, unangenehme Terroreinwirkungen vermeiden. Der Gefangene ahmt dann seinen Herrn bald nach, macht sich dessen Aufgaben zu den eigenen und wird so zu einem richtigen Werkzeug seines Chefs." (Federn 1989, 63) Daraus entsteht eine gegenseitige Beeinflussung, und Federn weiß von älteren Gefangenen zu berichten, die aus jungen SS-Vorgesetzten ernste Männer machten, umgekehrt aber auch von SS-Sadisten, mit denen sich Häftlinge identifizierten und die sie imitierten (ebd., 63 f.).
       
     
    Viele Gefangene identifizierten sich mit der Allmacht der SS, wobei die Häftlingshierarchie ihnen eine gewisse Teilhabe an der Macht auf Umwegen bescheren konnte. Wie in einer Art Psychose liehen sich diese Häftlinge Macht durch die Verinnerlichung der SS-Werte aus, was zugleich begrenzt ihren Selbstwert in einer unsicheren und vorläufigen Form stärkte (vgl. Bettelheim 1989, 244). Bettelheim berichtete von Gefangenen, die die SS imitierten, indem sie sich ähnlich zu uniformieren versuchten und typische Verhaltensweisen annahmen. Selbst in ihrer sehr begrenzten Freizeit ahmten sie die SS nach. In Gesprächen mit vielen Gefangenen hatte er herausgefunden, daß nur sehr wenige 1938 überhaupt wollten, daß über die Lager in ausländischen Zeitungen berichtet werden sollte (vgl. ebd., 187 ff.). Beinahe alle nichtjüdischen Gefangenen glaubten auch im Lager an die Überlegenheit der deutschen Rasse. Schwächlinge oder für das Lager untaugliche Personen wurden von den Gefangenen meist abgelehnt, weil sie mit Bestrafungen von der SS rechneten, wenn jemand aus ihrer Gruppe auffiel. Der äußere Zwang setzte sich in einen inneren um: Abweichler wurden im Lager oft genug von der eigenen Gruppe liquidiert.
       
     
    Ein besonders makaberer Scherz wurde mit Neuankömmlingen öfter inszeniert. Da die Sexualnot sehr groß war und viele Potenzängste herrschten, wehrten ältere Gefangene diese Angst dadurch ab, daß sie Neuankömmlingen mitteilten, sie seien kastriert worden. Nach den schrecklichen Erfahrungen der Mißhandlungen auf dem Transport verstärkte dies die Angst bei neuen Gefangenen. Aus der eigenen Angstabwehr heraus erfolgte damit eine Identifikation mit den Drohungen der SS, hier mit der öfters ausgesprochenen Kastrationsdrohung.
       
     
    Oft erließen SS-Leute unsinnige Befehle, wie z.B. die Schuhe innen und außen mit Wasser und Seife zu waschen. Auch wenn die SS daran bald kein Interesse mehr zeigte, so gab es Gefangene, die zwanghaft solche Normen zu erfüllen bestrebt waren und andere beschimpften, wenn sie nicht ihrem Beispiel folgten. Die Lagerorganisation bestärkte solche Tendenzen, da z.B. der Tagesbeginn mit Bettenbau verbracht werden mußte, wobei mit größter Kleinlichkeit die Gefangenen schikaniert und bestraft werden konnten. Dies führte zu einem Kampf aller gegen alle, weil nur derjenige, der sein Bett ordentlich gemacht bekam, sich waschen konnte, den Morgenkaffee bekam und den Gang zur Latrine schaffte. Angesichts der engen Verhältnisse im Schlafraum war man aufeinander angewiesen, zugleich aber auch aggressiv gegeneinander, weil der innere Druck kaum Geduld entwickeln ließ. So führte der innere Zwang letztlich oft zu einem Verhalten, daß die SS von den Gefangenen erwartete. Die Menschen verhielten sich chaotisch, undiszipliniert und aggressiv. Die SS fühlte sich in ihrem Bewußtsein hierdurch bestärkt, ohne zu begreifen, daß die Organisation des Lagers und ihr Verhalten Ursache für das Verhalten der Gefangenen waren. Die einseitige Konstruktion von Wirklichkeit in den Köpfen der Wächter führte dazu, daß die unmenschlichen Prophezeiungen ihres Führers sich erfüllten. Nur sehr organisierten Abteilungen - vor allem den politischen Gefangenen - konnte es gelingen, den gnadenlosen Kampf aller gegen alle abzuschwächen.
       
     
    Nach Federn gab es drei »Großmächte« in den Lagern: die Homosexualität, das Geld und das politische Zusammengehörigkeitsgefühl.
       
     
    Die Homosexualität teilte sich unter die auf, die ohnehin homosexuelle Neigungen hatten und andere, für die die Homosexualität ein Ersatz für die fehlende Heterosexualität war. Da diese Abweichung streng bestraft wurde, war sie gefährlich. Sie fand aber ihre Korrespondenz in der SS, die in Teilen auch homosexuell war. Federn beschreibt, daß es für hübsche Jungen meist leichter war, ihren Willen zu erreichen, aber auch gefährlich werden konnte, wenn sie an einen Sadisten gerieten. Meist kam es eher zum Flirt und zu erotischen Phantasien, als tatsächlich zu einer regelmäßigen Befriedigung. Die Identifikation mit jemandem, dem auch eine erotische Zuneigung entgegengebracht werden konnte, war ein großer Wunsch eines jeden Gefangenen. Diejenigen, die "nur" onanierten, waren durch die Vorstellung gepeinigt, ihre Potenz einzubüßen und dann nie wieder erotische Nähe erfahren zu können.
       
     
    Das Geld, oder das Tauschen im allgemeinen Sinne, bedingte in den Lagern Korruption, wie sie bei eigentlich jeder Gewaltherrschaft anzutreffen ist. Die Identifikationsleistungen wurden hier darauf gerichtet, daß für Dienste im Rahmen der Hierarchie Geschenke üblich waren, die als Freundschaftsdienste deklariert wurden, in Wahrheit jedoch Korruption darstellten.
       
     
    Politische Grundsätze konnten helfen, Regressionen zu verhindern und Anpassungen kollektiv zu bewältigen. Federns eigenes Überleben hing hiervon ab. Bettelheim hingegen beklagte, daß solche Identifikationen teilweise Übererwartungen an die eigene Macht nach Überstehen des Lagers auslösen konnten, wie sie z.B. für Funktionäre in der späteren DDR zu beobachten waren. Solche Menschen meinten, alles besser als andere zu wissen, und die Erfahrung ihres Überlebens nährte den Zweifel an allen anderen Blickrichtungen. Die eigene KZ-Erfahrung wird dadurch wiederholt, daß sie anderen Menschen die Einsperrung zumuten, die sie selbst erfahren hatten, indem sie nun behaupteten, daß es auf das richtige, d.h. ausschließlich ihr Weltbild ankomme.
       
     
    Die Identifikationen, die von den Häftlingen erwartet und durch sie selbst aufgrund innerer Zwänge entwickelt und differenziert wurden, waren nur die eine Seite, die keineswegs auf Vorgesetzte traf, die autonom und ichstark agieren konnten. Die Identifikationen, die in der SS verlangt wurden, waren durch starke autoritäre Unterwürfigkeit, durch Anpassung und Abwehr eigener Schwächen von autoritärer Aggression charakterisiert. (24) Das totalitäre System bedingt eine strikte hierarchische Ordnung. Das Über-Ich-System, das jeder aus seinem Elternhaus in Formen von Gewissen, Schuldgefühlen und Ich-Idealen kennt, wird durch politische Über-Ich-Surrogate des Systems ersetzt. Der Führer, Polizei, Lehrer bzw. hier die SS funktionieren dann als Über-Ich-Surrogat, wobei das ursprüngliche Anerkennungsmuster aus der Kindheit nun auf diese neuen Autoritäten übertragen wird. Bettelheim (1990 a, 344 f.) leitet hieraus ab, daß die Konformität, die von der SS im besonderen Maße wie von jedem Bürger oder auch den Häftlingen verlangt wurde, hierauf zurückgeht. Auch hier konnte uns der Fall Höss zeigen, wie weit solche Identifikation reichen kann und wie sehr sie auch nach dem Scheitern der eigenen Wirklichkeit und Ideen den Zugang zur Erarbeitung des eigenen Teils von Schuld, von Abrechnung, von Selbstreflexion verstellte.
       
     
    Nur weil die Nazis die Gewaltmittel in den Händen hielten, konnten sie im Lager ihre Macht, die selbst in einer Unterwerfung unter Führertum und strikte Hierarchie bestand, ausleben. Die Abwehr gegen die eigene Ohnmacht bei gleichzeitiger Entlastung des Schuldgefühls führte ihrerseits zu Grausamkeiten, die systemisch eskalierten: Im Wechselspiel von Täter und Opfer war auf der Fremdzwangseite immer die Ursache der Gewalt- und Machtanwendung zu erkennen, im Bild des inneren Zwanges aber entfaltete sie ihre eigene Dynamik, was sich auf die äußeren Zwangsmaßnahmen stabilisierend oder eskalierend auswirkte. Letztlich folgte die Identifikation mit dem Aggressor der gleichen Regression, die dieser in seinem Über-Ich aufrichten und verleugnen mußte.
       
      c) Projektion
       
     
    Opfer wie Täter übten sich ständig in Zuschreibungen, indem sie die andere Seite nach einem einfachen - stereotypen - Muster als dumm, unfähig, roh, ungehemmt, einer niederen Rasse zugehörig, sexuellen Perversionen ergeben, kriminell und dergleichen mehr bezeichneten. Diese Schwarz-Weiß-Malerei hielt der Wirklichkeit zwar nie stand, wenn man sich - wie Bettelheim und Federn - genauer hinzuschauen traute, aber sie diente als Feindbild dazu, die eigene Abwehr in der äußeren und inneren Zwangssituation aufrecht erhalten zu können, weil nur darauf sich eine sichere Prognose wagen ließ, wie die andere Seite reagieren müßte. Für die Häftlinge war dies sehr schwierig, weil jede Individualisierung der SS die Berechenbarkeit der Reaktionen erschwerte und imaginierte Pläne zunichte machen konnte. Aus der Abwehr heraus wurde die stereotype Zuschreibung damit zu einer Projektion eigener Wünsche: sich einen SS-Mann auszumalen, der auf der Basis der eigenen Denkweise doch anerkennen müßte, daß der Gefangene eigentlich auch Deutscher, Soldat, vaterlandsliebend und dergleichen mehr gewesen sei, vielleicht sogar selbst nationalsozialistisch eingestellt. Der SS-Mann jedoch benötigte - individuell unterschiedlich - eigene Abwehrmechanismen, um die Situation zu bewältigen. Seine stereotypen Zuschreibungen führten ihn dazu, insbesondere Juden als verschlagen, verlogen, faul usw. anzusehen, so daß alle Argumente a priori in einem anderen Licht erscheinen. Er fürchtete sich nicht vor dem einzelnen Juden, aber vor dem Stereotyp des Juden, in das eigene unerwünschte Neigungen projiziert und durch die Verfolgung zugleich abgewehrt werden (vgl. Bettelheim 1989, 244 ff.). Der Jude erwies sich hierzu als besonders geeignet, da er als Feind innerhalb der eigenen Gesellschaftsstruktur lebte, die Bedrohung also ständig spürbar projiziert werden konnte. Andere ungeschriebene Gesetze des sogenannten gesunden Menschenverstandes kamen und kommen bei solchen Zuschreibungsfunktionen und Sündenbocksuchen aber auch immer vor. Gegenwärtig drücken sie sich in Fremdenhaß und Ausländerfeindlichkeit aus, wobei wiederum einzelne Gruppen bevorzugt attackiert werden. (25)
       
     
    Wenn diese beiden Sichtweisen aufeinandertrafen, dann waren die SS-Leute aufgrund ihrer Macht und Gewalt fast immer die Sieger. Dies führte die Opfer dazu, ihnen zwar in der Regel eine moralische und intellektuelle Unterlegenheit zuzuschreiben, aber gleichwohl eine Überlegenheit zuzugestehen: Unmenschlichkeit und verschwörerische Allmacht.(26)
       
     
    Bettelheim berührt einen der schwierigsten Punkte in der Analyse der Lager, wenn er aus dieser Situation ableitet, daß die Gefangenen hier auch eigene unerwünschte Motive und Eigenschaften auf ihre Gegner projizierten. Diese Projektion verhinderte, "den SS-Mann als eine wirkliche Person zu sehen. Sie zwang dazu, die SS nur als Alter Ego des reinen Übels zu sehen." (Ebd., 243) Bettelheims Erfahrungen, die allerdings nicht die eines reinen Vernichtungslagers waren, zeigten hingegen, daß es zwar gefährliche und grausame SS-Leute gab, daß aber viele nur töteten oder grausam waren, wenn es ihnen befohlen wurde oder wenn sie glaubten, daß die Vorgesetzten dies von ihnen erwarteten. Die Projektion der Häftlinge führte zu einem Vermeidungsverhalten, das viele das Leben gekostet hat. Entweder war ihre Angst so groß vor der SS, daß sie Aufgaben nicht richtig erfüllten oder sich nicht meldeten, wenn sie gerufen wurden, was regelmäßig drastische Strafen nach sich zog. Oder sie waren den Tod vor Augen nicht mehr in der Lage, einen letzten Widerstand zu zeigen, weil die Allmacht des Gegners in der eigenen Vorstellung dies verhinderte (vgl. ebd., 243). Federn, der sieben Jahre im KZ überlebte, bestätigt eine solche Sicht.
       
     
    Sie läßt sich im Blick auf die Projektivität nach vielen Seiten hin differenzieren (27), einige wollen wir zur Verdeutlichung herausgreifen:
       
     
    - Sexualität: "Sexualattentate", so sagt Federn, konnten ständig von der SS ausgehen, aber meistens waren die Drohungen stärker als die Taten. Im projektiven Bereich spielt die Sexualität deshalb eine so große Rolle, weil sie - als eigener Sexualtrieb gespürt - gleichzeitig der Bearbeitung des Über-Ichs unterliegt. Abweichungen, die als eigener Impuls (unbewußt) erlebt werden können, führen zu besonderer Strenge im Verurteilen des vermeintlich Perversen bzw. zu Zuschreibungen, die ein Verhalten wie z.B. das Onanieren als pervers erscheinen lassen. Wohin aber sollten die Gefangenen mit ihrer Sexualnot? Sie mußten unausweichlich in das Konstrukt der Perversion geraten, weil ihre eigenen Ängste vor Impotenz oder vor Aufgabe des Sexualtriebes, der als wichtiger verbleibender eigener Lebensbestandteil empfunden wurde, sie dahin trieb, sich immer wieder in ihrer verbliebenen Potenz zu testen.
       
     
    - Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen, Spontanen: Regression und Identifikation waren darauf ausgelegt, die Individualität in ihren eigensten Spielarten, der Besonderheit des Subjektiven als Unterscheidungsmerkmal, des Phantasievollen als Hoffnungsträger und Wunschdifferenzierer und des Spontanen als Suche momentaner Erfüllung zu verhindern. Die Terrormittel dienten dazu, die Gedanken auf elementarste Bedürfnisse zu reduzieren und die Selbstachtung zu beschränken, wenn nicht zu zerstören. Projektionen konnten dies in der Form des Wachtraumes angreifen, aber dies fiel auch den geschulten Psychoanalytikern schwer. Bettelheim zog hieraus die ernüchternde Erkenntnis, daß die Psychoanalyse nicht taugte, ihm zum Überleben zu helfen. Federn ist vorsichtiger, weil er diese Hilfe so ausschließlich von der Theorie offenbar gar nicht erwartete. Sie ist ihm ein Beobachtungsinstrument, um besser und mehr zu verstehen, aber keine Überlebenstheorie.
       
     
    Die SS-Wachen benutzten ihre Uniformierung, die Monotonie des Hitlergrußes, die Konstruktion bestimmter Tagesabläufe als Quasi-Gesetze, um Subjektivität, Phantasie und Spontaneität auszuschließen. Die Selbstachtung der SS konnte sich damit auf das vermeintlich höhere Ziel des Staates und seiner Ideologie projizieren, das Ich von Entscheidungen, die mit Schuldgefühlen verbunden waren, entlasten.
       
     
    - Destruktivität und Zynismus: Die "Endlösung" war die größte projektive Fantasie der Nazis, der Einsatz der zu ermordenden Gefangenen bei ihrer eigenen Beseitigung der größte Zynismus. Die projektive Ableitung auf Sündenböcke versucht den Blick auf das eigene Ich zu verdrängen, umzulenken, die Energien in Destruktion abzuführen. Mittels der Identifikation wurden diese Mechanismen Teil etlicher Gefangener selbst, die in ihrer Rolle anderen Gefangenen gegenüber ebenfalls schlimmen Terror ausübten, um letztlich als Mitwisser, wie Bettelheim mehrfach beschreibt, dann mit als erste von der SS beseitigt zu werden. Auch hier bestätigt sich gerade für die SS der systemische Zirkel: Sie erwarteten Verräter, sie bekamen Verräter, sie ließen Verräter als erste sterben. Aber sie wollten nicht sehen, daß ihr System solche menschlichen Abgründe zynisch produzierte und damit - wie Federn schlußfolgert - die aggressive Seite des eigenen Trieblebens nicht zum Überlebenskampf, sondern zur bloßen Destruktion nutzte.
       
     
    - Machtdenken und "Kraftmeierei": Machtdenken war für die SS als Abwehrhaltung gegen jegliche Infragestellung dessen, was sie tun, unabweisbar. Kraftmeierei, die sich durch Anbrüllen, Rumschnauzen, körperliche Kraft- und Kampfbeweise usw. ausdrückte, war der meist laute Selbstüberzeugungsversuch, der bisweilen vielleicht gegen das eigene - übriggebliebene - schlechte Gewissen anschrie. Solche Abwehr wurde in der Identifikation von vielen Gefangenen übernommen. Dies ging sogar so weit, daß einige Gefangene, wie Bettelheim beschreibt, Kampfspiele der SS imitierten, obwohl sie körperlich viel zu geschwächt waren. Die Selbstbehauptung in einem Lager, das ständig zu Aggressionen reizte, dessen Tagesablauf Konflikte unvermeidbar werden ließ, forderte eine Abwehr nach dem Muster einer Projizierung männlicher Stärke und Kampfeskraft als letzten Ausdruck eigener Ichbewältigung geradezu heraus. Es konnte SS-Leute zu immer übersteigerteren Beweisen ihrer Kraft führen, was Sadismen und Perversionen eskalieren ließ, für die Gefangenen war meist eine Grenze durch körperliche Erschöpfung gegeben.
       
     
    - Aberglaube und Stereotypie: Gerüchte waren in den Lagern immer wieder vorhanden, um sich irgendwelche Verbesserungen zu imaginieren. Wo neue Häftlinge noch an Befreiung dachten, da freuten sich die älteren über Kleinigkeiten des Alltags und gaben hierauf mehr als auf alles andere. Eine Abwehr gegen die Unwirklichkeit des Lagers waren unwirkliche Wachträume und ein abergläubisches Verhalten, von dem sich etliche Häftlinge Glück erhofften, weil die Planbarkeit des Glücks durch bloß vernünftiges Handeln kaum gewährleistet war. Neben dem Aberglauben diente die Stereotypie der Zuschreibung, wie wir sie oben schon erwähnten, vor allem dazu, eine gedachte Konstanz in die Handlungen des Gegners zu bringen: SS-Offiziere verhalten sich immer so, daß ... oder Juden sind immer so, daß ... - dies waren die Schlußfolgerungen auf beiden Seiten, die ein Handeln auf der Basis von Tatsachen meistens ausschlossen, weil sonst der gedachte Handlungszusammenhang fraglich werden würde und Handlungen immer planloser erscheinen müßten. Auf diese Art der Abwehr geht Bettelheim sehr ausführlich ein.
       
     
    Der größte Aberglaube der SS war die Hoffnung auf den "Endsieg", die stereotyp als Formel immer mehr beschworen wurde, je mehr das "Reich" dem Ende zuging. Wie eine religiöse Heilslehre suchte die Führerideologie alle Projektionen auf unwirkliche Ziele zu konzentrieren, und die, die der grausamen Verwirklichung am nächsten waren, konnten am wenigsten von der Unwirklichkeit, der Undurchführbarkeit des Rassenwahns erkennen.
       
    5. Überlebende Seitenanfang
       
     
    Wer überhaupt soll von einer Extremsituation, von einem Konzentrationslager im besonderen, schreiben, wenn er nicht dabei gewesen ist? Es beschleicht uns Unbehagen, wenn jemand es versuchen würde, der es nicht direkt erfahren hat. In einer Zeit, in der vieles von solcher Erfahrung abhängig gemacht wird, um emotionale Glaubwürdigkeit zu versichern, setzen wir sehr auf die Gewährsleute, die dann auch moralisch ein Recht besitzen, Urteile zu fällen. Beiden Autoren ist es hier gelungen, Ansätze zu einer Psychologie der Extremsituation zu entwickeln, die sich aus dem Schema bloßer Verurteilung, aus der Zuschreibung von Gut und Böse, aus der Vereinfachung bloßer Verdrängung eines Ungeheuerlichen löst. Wenn man diese Texte als Unbeteiligter an Lagern liest, dann ist man zugleich erstaunt, mit welcher Härte stellenweise besonders Bettelheim die Opfer betrachtet und wie sich die entmoralisierende Beschreibung des Wechselspiels von Tätern und Opfern in moralische Urteile wendet. So findet er das Tagebuch der Anne Frank und seine Verbreitung als problematisch, weil hier eine jüdische Familie gezeigt wird, die sich nicht wehrte. Für ihn belegt gerade das Schicksal der Anne Frank und ihrer Familie, "wie ein Mensch seine eigene Vernichtung noch beschleunigen kann, indem er ein Privatleben führt und alles, was außerhalb dieses Lebens in der Gesellschaft passiert, ignoriert." (Bettelheim 1990 a, 253) Er kontrastiert es mit den Versuchen anderer, die in die Freiheit gingen, indem sie flohen oder unterzutauchen versuchten oder sich dem Kampf im Untergrund stellten. Bettelheims Forderungen gewinnen ihre Qualität aus der persönlichen Erfahrung heraus, die Extremsituationen schonungslos zu beschreiben versucht, ohne die Moral aus der Geschichte zu nehmen. Totalitäre Regime sind möglich, Streben nach menschlicher Autonomie, nach Menschenrecht und Toleranz ist notwendig und wäre damals stärker notwendig gewesen, hier erscheinen moralische Appelle.
       
     
    Aber können wir damit das gelebte Konstrukt von jenen kritisieren, die nicht weitblickend historisch gedacht hatten oder mutig genug waren? Bettelheims Schriften sind prinzipiell von einer hier sichtbar werdenden Ambivalenz getragen. Da ist einerseits der Psychoanalytiker, der entmoralisierend die Ereignisse der menschlichen Psyche interpretiert, uns dabei eine Phänomenologie des Schreckens zwischen Tätern und Opfern entwickelt, und da ist andererseits der Mensch Bruno Bettelheim, der ein Lagerschicksal erlebte, der überlebte, wo andere starben, und der daraus einen persönlichen Kampf gegen die Gleichgültigkeit des Vergessens, gegen die Verdrängung und Abwehr damit zusammenhängender Emotionen machte, was ihn als moralisierenden Menschen erscheinen ließ, der Mitarbeitern und Kollegen oft die Meinung sagte und dabei auch schroffe Formen wählen konnte. Dieser Kampf rührt zugleich an ein Dilemma der Psychoanalyse, mit der sich destruktive Kräfte analytisch beobachten und beschreiben lassen, mit der der gute Mensch jedoch nicht hergestellt werden kann. Bettelheims Arbeiten nach dem Krieg zeigen bis weit in die sechziger Jahre immer wieder die - für die amerikanische Psychoanalyse ohnehin gängige - Frage, wieviel wir vom Ich des sozialen Menschen wissen müssen, damit nicht wieder Unmenschlichkeit sei. Damit kam der Ruf nach der Beschreibung einer sozialen, guten Persönlichkeit auf, die eher vom Ich als von der Trieblehre Freuds her gedeutet wurde. (28) Es lag Bettelheim aufgrund seiner Lebenserfahrung nahe, sich solcher Suche zuzuwenden. Zugleich aber zeigte seine psychoanalytische Arbeit auch die andere Ebene, die der Entmoralisierung bedurfte, um zu begreifen, was geschah. Gerade seine Arbeiten über die Extremsituation bieten dafür einen Anlaß, den er sich schaffen konnte, weil er selbst Betroffener war: Es gelang ihm, die Verstrickung von Opfern und Tätern zu beschreiben, das heißt Erklärungen für beide Seiten des Verhaltens und ihr Zusammenwirken zu entwickeln.
       
     
    Die Reintegration traumatisierter und in ihrer Persönlichkeit "zerstörter" Menschen war nach dem Krieg für Bettelheim ein wichtiges Arbeitsgebiet. 1955 verbrachte er dazu mehrere Monate an der Frankfurter Universität, sein Aufsatz "Individual Autonomy and Mass Controls" (später in Bettelheim 1989) erschien in einem Band, der Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet war (Adorno/Dirks 1955). Bettelheim, dessen Nähe zur Kritischen Theorie immer auf psychoanalytische und Vorurteilsstudien begrenzt blieb und dessen eigene Theorie eher Defizite im Blick auf soziologische Dimensionen aufzeigt, wollte damals Deutsche befragen, die den Konzentrationslagern entkommen waren. Sein Vorhaben scheiterte jedoch an der Komplexität. Er bemerkte nun, daß nicht nur die in den Lagern Gefangenen eine Traumatisierung erlebt hatten, sondern daß alle Deutschen in dem totalitären System, in dem sie gelebt hatten, in einer Art Lager gewesen waren (vgl. Bettelheim 1990 b, 248 f.). Die Abwehr gegen das erfahrene Trauma ist jedoch unterschiedlich: die einen leugnen die Tatsache der Lager, die anderen unterliegen weiterhin der erlebten Traumatisierung.
       
     
    Für die ehemaligen KZ-Häftlinge wird die Reintegration zur entscheidenden Aufgabe in ihrer Lebensbewältigung (vgl. Bettelheim 1990 a, 28 ff.). Dies galt auch für Bettelheim selbst: einerseits bemerkte er nach dem Krieg die Verdrängungsleistungen vieler ehemaliger Häftlinge, die so das Grauen distanzierten, indem sie ihm jegliche weitere Bedeutung für ihre Gegenwart bestritten; andererseits stieß er immer wieder auf Schuldgefühle, die darin wurzelten, überlebt zu haben, wo doch so viele gestorben waren. Ihm wurde dadurch klar, daß das Thema der Psychologie der Extremsituation neue Dimensionen aufwirft, die über eine Betrachtung von Täter und Opfer hinausreichen und die auch diejenigen einschließen, die im historischen Prozeß gar nicht beteiligt waren. Es gibt keinen Vorteil einer "späten Geburt", wie man sich auszudrücken pflegte, um neue Verdrängungsleistungen heraufzubeschwören. Extremsituationen sind wiederkehrend, das Ausmaß bei den Vernichtungslagern war in der bisherigen Geschichte einmalig, aber Wiederholungen sind nicht auszuschließen, sie sind geschehen und geschehen gegenwärtig.
       
     
    Vielen ehemaligen Häftlingen war ihr Überleben eine schwere Hypothek. Drei Bewältigungsstrategien sind auffällig (vgl. ebd., 37): Zerstörung einer möglichen Reintegration durch das Erlebte; Verdrängung, die die Geschehnisse in ihrer fortdauernden Wirkung abwehrte; lebenslange Beschäftigung mit dem Erlebten.
       
     
    Viele scheiterten an der Reintegration, weil ihr Leben jeglichen Sinn verloren hatte, die nächsten Angehörigen z.B. waren ermordet worden, man selbst hatte Dinge getan, die unverzeihlich erschienen. Sehr oft ergaben sich hieraus psychotische Reaktionen, die durch die äußere Gewalt der Umwelt erzwungen, verinnerlicht wurden, und die man als KZ-Überlebenssyndrom bezeichnete. Derjenige, der schon in den Lagern die größten Qualen erleiden mußte, wurde auch nach seiner Befreiung nicht frei von Leid. Dies erscheint als eine der größten Ungerechtigkeiten gegenüber den anderen Überlebenden des Krieges, den deutschen Verursachern, denen diese psychologischen Schwierigkeiten erspart blieben, als deren Urheber sie im totalitären, im faschistischen System jedoch beteiligt waren. Etlichen Opfern gelang die Reintegration nicht und viele von ihnen begingen Selbstmord. Andere - vielleicht die Mehrheit - bevorzugten Verleugnung und Verdrängung, was aber dazu führte, daß ihr Standpunkt leicht wieder von außen zu erschüttern war (vgl. ebd., 40 f.). Nicht nur die Opfer wählten diesen Weg, sondern vor allem die Mehrheit der Bevölkerung, der Völker. Der ständige Kampf gegen die Lagererfahrung brachte die dritte Gruppe dazu, sich etwas abzugewinnen, das die Lager unter einem positiven Aspekt erscheinen ließ (ebd., 43 f.). Bettelheims Bemühungen um kranke Kinder beweisen für ihn seine Versuche der Reintegration, sein Eifer hierbei zeigte die Stärke dieses Bemühens an.(29)
       
     
    Auch Ernst Federn hält es für möglich, daß nicht nur in totalitären, sondern in allen Gesellschaften Menschen auftreten, die Störungen wie jene zeigen, die wir als KZ-Mörder verabscheuen. "Manche Autoren glauben, völliger Mangel an zärtlicher Zuwendung könne beim Kind eine Schizophrenie bedingen. Die klinische Erfahrung dagegen lehrt, daß nicht jedes Kind, das elterliche Liebe entbehrt, schizophren wird. Dennoch kann man annehmen, daß der Mangel an elterlicher Fürsorge eine Reihe von Ich-Störungen bedingt, die sich vielleicht lange nicht bemerkbar machen, bis politische, soziale oder persönliche Umstände ihre fürchterlichen Folgen auslösen." (Federn 1969, 639) Bettelheim zieht ähnliche Schlußfolgerungen (Bettelheim 1990 a, 126 ff.). Er beschreibt die Umwelt des Kindes als entscheidend, insbesondere die systemischen Wechselwirkungen von Mutter und Kind sieht er als bedeutsam an. Dabei ist das Kind aktiv beteiligt, so daß eine alleinige Ableitung aus dem Kontext der Vorbilder der Mutter oder Eltern problematisch wäre. Wenn man versuchen will, Kindheitspsychosen als spontane psychische Entwicklungen des Kindes deutlicher ins Auge zu fassen, dann nützen die Erkenntnisse aus der Psychologie der Extremsituationen, weil sie sich auf vergleichbare Phänomene beziehen: Unausweichlichkeit, ungewisse Dauer des Ereignisses, Unvorhersagbarkeit bei gleichzeitiger Lebensbedrohung und Hemmung der eigenen Bewältigungsmöglichkeiten (vgl. ebd., 129). Auch die Bildung der Symptome in den Lagern lassen sich durchaus mit Kindern vergleichen, die Autismus und Schizophrenie erleiden - es waren dies auch für Häftlinge Reaktionsmöglichkeiten. Wesentliche Unterschiede zwischen den Kindern und Häftlingen in Extremsituationen sind damit allerdings nicht ausgeräumt, wie auch Bettelheim zugestehen muß.
       
     
    Als die Welt von den Greueltaten der Konzentrationslager erfuhr, entfaltete sie eigene Abwehrmechanismen, um die Greueltaten zu verarbeiten. Bettelheim beschreibt drei typische Reaktionen: 1) der Terror schien so unheimlich, daß er auf eine kleine Gruppe perverser und geistesgestörter Personen beschränkt wurde; 2) es wurde bestritten, daß die Berichte aus den Lagern wahr seien; 3) man glaubte zwar den Berichten, aber verdrängte das Wissen, so schnell es ging. Bettelheim beklagte mehrfach bitter, daß der Westen viel zu wenig politisches Asyl den Flüchtenden gewährte, was viele zusätzlich in den Tod trieb.
       
     
    Hinter all diesen Abwehrmechanismen steckt das Eingeständnis der modernen Zivilisation, daß die Unmenschlichkeit Teil des Zivilisationsprozesses geblieben war. (30) Der moderne Mensch war nicht in der Lage, seine Grausamkeit zu beherrschen. Dieses Eingeständnis aber forderte eben jene Abwehrweisen heraus, die auch nach der Entdeckung der Lager durch die Allierten, nach den Nürnberger Prozessen bis in die Gegenwart weiter wirken (vgl. Bettelheim 1989, 272)
       
     
    Neben dieser Abwehrleistung des Auslands ist es wichtig, auch die Abwehr der Deutschen in den Blick zu nehmen. Da die Konzentrationslager gerade dazu dienten, auch die Deutschen einzuschüchtern, ist es eine gigantische Verdrängungsleistung, wenn nach dem Kriege behauptet wurde, man habe von nichts gewußt. Damit war in der Regel auch nur gemeint, daß man das Ausmaß der Greueltaten im Detail sich nicht vorstellen konnte, gleichwohl aber Angst vor den Lagern empfand. Wenn dann allerdings im Ausland gesagt wurde, daß die Deutschen nun logen, um sich ein Alibi zu verschaffen, dann wird dies nach Bettelheim der Situation auch nicht gerecht. Er beschreibt die systemischen Wirkungen, die zwischen Lüge und der Angst vor Bestrafung im Zusammenhang mit psychischen Prozessen herrschen, die wir auch von Kindern kennen. Kinder gebrauchen oft Lügen, um uns zum Narren zu halten, weil sie sich selbst zum Narren halten. Auch hier regiert eine Abwehrhaltung: Aus der Angst vor Strafe, aus dem Wissen, daß sich die Wahrheit nicht immer wird verbergen lassen, entsteht der Impuls, sich selbst einzureden, daß die Missetat niemals hätte geschehen können oder geschah. Darin reflektiert sich vielfach unbewußt, daß Strafen dann höher ausfallen, wenn wissentlich gehandelt wurde (vgl. Bettelheim 1989, 311 f.). Und was nützt der Katalog der Strafen? Je härter die Strafen sind, desto stärker wird die psychische Abwehr herausgefordert. Zudem ist zu berücksichtigen, daß nicht nur die Deutschen Schuld auf sich geladen haben - was nicht als Entschuldigung für Greuel gelten kann, sondern nur als Erklärung für Verhalten -, daß es vielmehr darauf ankommt, zu erkennen, "daß ein unterdrückendes Regime die Persönlichkeit erwachsener Menschen so sehr desintegrieren kann, daß sie aus reiner Angst das fest glauben können, was sie als falsch erkennen würden, wenn ihnen dies die Angst erlaubte." (Ebd., 312)
       
     
    Adorno leitete aus einer solchen Einsicht ab, daß es oberstes Erziehungsziel einer "Erziehung zur Mündigkeit" sein müsse, daß nie wieder Auschwitz sei. Die Geschichte nach 1945 zeigte sehr schnell, daß die sogenannte Zivilisation des 20. Jahrhunderts diesem Ziel nicht standhalten konnte. Vielfältig haben seither Diktaturen Menschen in Lager gesperrt, gefoltert, ermordet - und damit immer wieder Abwehrleistungen herausgefordert. Die Psychologie der Extremsituationen bedarf weiterer Differenzierung, bedarf auch eines viel größeren Forscherinteresses als bisher, um uns nicht blind in der Abwehr gegen das zu belassen, was Menschen täglich bedroht und auch uns eines Tages wieder direkt bedrohen könnte. Sowohl die Latenz wie auch die Manifestationen solcher Prozesse - heute besonders für rechtsextreme Gewalt diskutiert - zeigen die Notwendigkeit, daß sich alle Menschen, insbesondere aber die mit Erziehung befaßten, dem Thema über die Enge des eigenen Faches und möglicher Verdrängungen hinaus stellen. Deshalb bleibt der Satz von Adorno ein Stachel, der vor allem die deutsche Pädagogik schmerzt: Sie hat es bisher versäumt, sich dieser Aufgabe umfassend zu stellen.
       
     
    Für eine Perspektive pädagogischer Dekonstruktionen bleibt die Aussage, "daß nie wieder Auschwitz sei!", ein wesentliches Erziehungsziel. Es ist ein dekonstruktivistisches Ziel, denn wir erreichen die Konstruktion solcher Wirklichkeit nur im indirekten Nacherleben und -leiden, wir erdulden die Rekonstruktionen, weil wir hier etwas zur Kenntnis nehmen müssen, was uns nach den Berichten derjenigen, die dabei waren, schmerzt oder erzürnt. Aber unsere eigene Aufgabe als konstruktive ist vor allem dekonstruktiv ausgerichtet: Wir haben, wo immer es geht, wann immer es uns begegnet, wie auch immer es erscheint, jeglicher Macht und jeglichem Eingriff gegen die Menschenrechte zu begegnen, bevor wir in einem System von Tätern und Opfern gefangengesetzt sind, das uns jegliche Dekonstruktion ohnehin verbietet. Auschwitz ist uns dafür ein Mahnmal, das für viele andere steht. Diese anderen stets aufzuspüren und nicht zu vergessen, bestimmt Erziehungsziele, die wir uns unabhängig davon, was andere uns als Lehrpläne vorschlagen, zu einem steten Lernplan machen sollten.
       
    Literatur: Seitenanfang
  • Adorno, Th.W. / Dirks, W. (Hg.): Sociologica. Aufsätze, Max Horkheimer zum sechzigsten Geburtstag gewidmet. Stuttgart (Europäische Verlagsanstalt) 1955
  • Adorno, Th. W.: Studien zum autoritären Charakter. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1973
  • Adorno, Th.W.: Erziehung nach Auschwitz. In: Adorno, Th.W.: Gesammelte Schriften, Bd. X/2, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1977
  • Becker, D.:Ohne Haß keine Versöhnung. Trauma der Verfolgten. Freiburg (Kore) 1992
  • Bettelheim, B.: Freud und die Seele des Menschen. München (DTV) 1986
  • Bettelheim, B.: Aufstand gegen die Masse. Die Chance des Individuums in der modernen Gesellschaft. Frankfurt a.M. (Fischer) 1989
  • Bettelheim, B.: Erziehung zum Überleben. Zur Psychologie der Extremsituation. München (DTV) 1990 a (4. Aufl.)
  • Bettelheim, B.: Themen meines Lebens. Stuttgart (Deutsche Verlags-Anstalt) 1990 b
    Federn, E.: Versuch einer Psychologie des Terrors. In: Psychosozial, 12. Jg. (1989), Heft 37
  • Fisher, D.J.: Toward a Psychoanalytic Unterstanding of Fascism and Anti-Semitism: Perceptions from the 1940's. Manuskript Los Angeles o.J. (Mittlerweile auf französisch erschienen in: Rev. Int. Hist. Psychanal. 1992, 5, S. 221-241)
  • Höss, R. : Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, München (dtv) 199213
  • Kaufhold, R. (Hg.): Annäherung an Bruno Bettelheim. Mainz (Matthias-Grünewald) 1994
  • Peukert, H.: "Erziehung nach Auschwitz - eine überholte Situationsdefinition? Zum Verhältnis von Kritischer Theorie und Erziehungswissenschaft. In: Hoffmann, D. (Hg.): Bilanz der Paradigmendiskussion in der Erziehungswissenschaft. Weinheim (Deutscher Studien Verlag) 1991
  • Reich, K.: Zur Psychologie extremer Situationen bei Bettelheim und Federn. In: Psychosozial, Heft 2/1993
  • Reich, K.: Bettelheims Psychologie der Extremsituation. In: Kaufhold, R. (Hg.): Annäherung an Bruno Bettelheim. Mainz (Matthias-Grünewald) 1994
  • Reich, K.: Systemisch-konstruktivistisch Pädagogik. Neuwied u.a. (Luchterhand) 1996 (19972)
  • Stierlin, H.: Adolf Hitler. Familienperspektiven. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1975
  • Stierlin, H.: Delegation und Familie. Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 1982
       
    Fußnoten
    1.
    Dieser Text wurde - in gekürzter Form - am 8.5.1995 in der Universität Köln, 50 Jahre nach Kriegsende, vorgetragen und diskutiert.
    2.
    Es ist vor allem eine Hypothese der Psychoanalyse, daß nicht nur Interessen- und Vernunftgründe für menschliches Handeln bestimmend sind, sondern auch innere An-Triebe. Gerade das hier gewählte Thema wird es erlauben, hierzu im folgenden spezifische Aussagen zu machen.
    3.
    Ich stütze mich nachfolgend auf Arbeiten von Bruno Bettelheim und Ernst Federn. Beide waren in Dachau und Buchenwald, Federn selbst schrieb eine Arbeit über Rudolf Höß, den Kommandanten von Auschwitz. Vgl. hierzu auch Reich (1993, 1994).
    4.
    Die Wahl meiner Augenzeugen bedingt allerdings - wie dem Leser auffallen wird - eine spezifisch männliche Sicht. Sie müßte in jedem Fall um eine weibliche Sicht der Erfahrungen in Konzentrationslagern erweitert werden. Der Begriff Zeuge ist für mich in diesem Fall sehr direkt, weil ich mit Ernst Federn über seine Erfahrungen ausführlich sprechen konnte. Ich danke ihm an dieser Stelle ausdrücklich für seine intensiven und reflektierten Analysen.
    5.
    Federn zählte sich damals zu den Trotzkisten. Er gehört bis heute zu den Psychoanalytikern, die mögliche Verbindungen von Marx und Freud nicht in Abrede stellen. Demgegenüber ist Bettelheim viel stärker auf die Individualisierung von gesellschaftlichen Phänomenen fixiert, was sich insbesondere in seiner negativen Beurteilung der Anti-Vietnamkriegsdemonstrationen und seinem Unverständnis gegenüber der "Studentenbewegung" der 60er Jahre ausdrückte. Die gesellschaftskritische Seite wird an dieser Stelle, weil wir uns an die Publikationen von Bettelheim und Federn halten, nicht näher entfaltet, obwohl sie stets notwendig ist. Die psychoanalytische Betrachtung reduziert sich auf psycho-logische Gesichtspunkte, die nicht als ausschließlicher Betrachtungsmaßstab mißverstanden werden dürfen. Sie bieten gleichwohl einen wesentlichen Blickwinkel, der bei der Analyse von KZs oft übersehen wird: das systemische Zusammenwirken von Opfern und Tätern - und das soll hier schwerpunktmäßig hervorgehoben werden.
    6.
    Federns Beobachtungen bauen hier auf Perspektiven der Psychoanalyse auf. Vgl. als Einführung in diesen Hintergrund z.B. die "Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse" sowie "Neue Folge der Vorlesungen" von Sigmund Freud. Zur Struktur des psychischen Aparates vgl. insbesondere Freuds "Metapsychologische Schriften" (Das Ich und das Es).
    7.
    Eine neuere Studie - ebenfalls aus psychoanalytischer Sicht - zur Bedeutung der Folter hat Becker (1992) vorgelegt. Sie ergänzt und bestätigt die von Bettelheim und Federn genannten Mittel des Terrors am Beispiel von Folteropfern in Chile.
    8.
    Zur Geschichte der Konzentrationslager vgl. Bettelheim (1990, 47 ff. und 1989, 118 ff.)
    9.
    In den ersten Jahren konnten noch jüdische Häftlinge von den Familien freigekauft werden. Bettelheim selbst hatte das Glück, freizukommen und auswandern zu können.
    10.
    Ernst Federn, der sieben Jahre in Buchenwald und Dachau verbrachte, entwickelte Ansätze zu einer "Psychologie des Terrors", in der er neben den physischen vor allem die psychischen Qualen als Terrorinstrumente hervorhob. Vgl. Federn (1989). Federn war neben Alfred Fischer ein wichtiger Gesprächspartner von Bettelheim im Lager.
    11.
    Die SS betonte gegenüber Häftlingen immer wieder, daß das Erschießen das deutsche Volk zu viele Pfennige für die Kugel kosten würde, daß mithin die Kugel zu schade für den Häftling sei.
    12.
    Der Begriff spielt auf Muslime an, die sich fatalistisch in ihr Schicksal fügen. Auch wenn die Zuschreibung selbst schon fragwürdig und diskriminierend ist, so ist vor allem zu bemerken, daß die Lage der "Muselmänner" nie eine der freien Wahl war, sondern sich durch den Fremdzwang des Lagerterrors ergab.
    13.
    Bettelheim war auf den Lageraufenthalt nicht unvorbereitet gewesen. Es lagen ihm vor der Inhaftierung bereits Berichte über Mißhandlungen und Tötungen vor.
    14.
    Hier helfen dann auch keine Systemtheorien, die Systeme nur vermeintlich wertfrei zu beschreiben versuchen. Als Teil solcher unhinterfragt übernommenen systemischen Netze produzieren wir auch deren Folgewirkungen. Nur eine dekonstruktivistische Perspektive hilft uns, aus solchen Gefangenschaften herauszutreten. Doch von hier aus ist es noch ein großer Schritt zum konkreten Widerstand, den Bettelheim fordert.
    15.
    Zum Hintergrund von Missionen als Modelle der familiären Delegation vgl. Stierlin (1982).
    16.
    Wenn Tucholskys Satz: "Soldaten sind Mörder", 1995 vom Bundesverfasungsgericht als bedingt zulässig bezeichnet wurde, so zeigt dies die Aktualität soldatischer Widersprüchlichkeit. Einerseits sind sie in ihren Nationen Symbol für patriotische Tugendhaftigkeit und gesellschaftliche Werte, andererseits müssen sie menschliche Werte dann vergessen, wenn sie kämpfen und morden. Wird dieses Morden im Namen der Nation heroisiert wie im Kaiserreich und im Faschismus, dann werden Typen wie Höss gefördert, die ggf. auch vor Massenmord nicht mehr zurückschrecken. Wer gegen den als Metapher gemeinten Satz das Verfassungsgericht anruft, der zeigt, daß er von der deutschen Geschichte nicht viel begriffen hat.
    17.
    Vgl. dazu z.B. die Analyse von Helm Stierlin (1975), der Hitler insbesondere aus der Perspektive der Delegation durch seine Familie beschreibt.
    18.
    Zum Zusammenhang von Familienterrorismus und öffentlichem Terorismus vgl. die provokanten Thesen Stierlins (1982, bes. 186 ff.).
    19.
    Persönliche Mitteilung von Ernst Federn.
    20.
    Hier zeigt sich eine Analogie zur Erfindung der Massenvernichtungsmittel seit dem Zweiten Weltkrieg, einer variierenden Massenvernichtungsmaschinerie, die Leute im Namen von Wissenschaft und Pflichterfüllung mit biederer, buchhalterischer Gründlichkeit einsetzen. Die Pflichterfüllung wird allerdings zusehend durch bloße Profitinteressen verdrängt.
    21.
    Und diese Andere sind andere/Andere als durch uns imaginierte andere und tatsächlich Andere. Gerade bei Höss siegt ein imaginierter böser anderer über den menschlichen Anderen, der anders als ich sein darf. Vgl. dazu die Erklärungen in Kapitel 3.
    22.
    Es gibt mehrere psychoanalytische Versuche, die Pathologie Hitlers oder anderer Nazigrößen zu beschreiben. Vgl. zu klassischen Ansätzen z.B. Fischer (1992). Dies kann andererseits aber nicht heißen, den gesamten Faschismus allein aus psychischen Mustern erklären zu wollen.
    23.
    Wobei manche Menschen durch solche Szenarien auch angeregt werden können, ihre Phantasien mit realen Möglichkeiten zu verwechseln, d.h. die Über-Ich-Schranken, die ihnen verbieten, anderen Leid zuzufügen, abzubauen.
    24.
    Adorno (1973) führt Anti-Intrazeption (Abwehr des Subjektiven, Phantasievollen, Spontanen), Aberglaube und Stereotypie, Machtdenken und "Kraftmeierei", Destruktivität und Zynismus, Projektivität und Sexualität als untersuchenswerte Kategorien an, um autoritäre Charakterstrukturen zu beschreiben. Bettelheim war an diesen Studien beteiligt, da er im Rahmen der "Studies in Prejudice", die in fünf Bänden 1949 und 1950 erschienen, mit Janowitz die "Dynamics of Prejudice" am Beispiel von Veränderungen der Charakterstruktur und Vorurteilsbildungen unter besonderem Druck und Angst bei ehemaligen Kriegsteilnehmern untersuchte.
    25.
    Im Blick auf die deutsche Geschichte ist die historische Ignoranz gegenüber eigenen Erfahrungen offenbar heute anders situiert als in den 50er und 60er Jahren; die Geschichte wird weniger verdrängt, sondern einfach vergessen.
    26.
    Nachdem in den 90er Jahren rechtsradikale Gewalt in der BRD auftrat, gingen die Anträge von Juden, die nach Israel ausreisen wollten, sprunghaft nach oben. Obwohl von der offiziellen Politik hierzu kein Anlaß bestand, wirkte die Zuschreibung der Allmacht bei den Verschwörern hier als selbsterfüllende Prophezeiung.
    27.
    So besonders im Blick auf Regressionen und Identifikationen im allgemeinen, was hier nicht näher ausgeführt werden kann. Die nachfolgenden Kriterien werden aus Adorno (1973) entlehnt, aber hier der Projektivität zugeordnet, um auf die psychischen Abwehrmechanismen und systemischen Wirkungen näher hinzuweisen. Zu beachten ist, daß solche kategorialen Zuschreibungen immer von verschiedensten Blickwinkeln aus gedacht und sinnvoll gegliedert werden können, so daß der hier vorgelegte Versuch nur anregend, niemals aber abschließend bestimmend sein kann.
    28.
    Im Spätwerk kehrte Bettelheim eher zu Freuds ursprünglichen Ansichten zurück, vgl. Bettelheim (1986, 1990 b).
    29.
    Vgl. einführend Kaufhold (1994).
    30.
    Hinsichtlich der Ermordung von Geisteskranken hatte es weltweite Proteste gegeben; bei den Juden hingegen hatte die Weltöffentlichkeit in etlichen ihrer Repräsentanten - insbesondere der Papst und die Geistlichen - geschwiegen. Vgl. Bettelheim (1990, 102 f., 114).
     
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