Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 2: Kapitel IV.2

   

>> zurück zum Inhaltsverzeichnis und zur Auswahl der Kapitel

2. Die Multioptionsgesellschaft als Oberflächenbeschreibung

Die Unschärfen der Lebenswelt und das Primat der Perspektivität machen sich in phänomenologischen Beobachtungen und Beschreibungen der Postmoderne geltend, die jeweils besondere Aspekte der Entwicklung und Veränderung hervorheben. Da ist z.B. von Modernisierung (Loo/Reijen 1992) die Rede, um in einer zunehmenden Individualisierung (mehr Freiheiten), einer Differenzierung der Lebenswelt (mehr Möglichkeiten), einer Funktionalisierung (mehr Aufgabenbereiche), einer voranschreitenden Arbeitsteilung (mehr Waren/mehr Berufe) als auch einer Pluralisierung und Multikulturalisierung (mehr Kulturen in einem Kulturraum) Hauptbezugspunkte einer modernen Gesellschaft zu beschreiben. Oder man spricht von der Modernisierungsfalle (Wahl 1989), um damit die Krise zu bezeichnen, in die man gerät, wenn man die drei zentralen Mythen der Moderne als Wahrheit und nicht als Illusion vertritt: Die Unbegrenztheit des Ich-Kults, den Fortschritt als Ausdruck jeglichen Glücks, die Liebesehe und das Familienidyll als vorrangiges Ziel. Die widersprüchlichen Phänomene in der Lebenswelt zeigen, dass wir uns gerne übernehmen. Und auch die Beschreibung, wo wir uns übernommen haben, erscheint als phänomenologischer Beleg. Als Risikogesellschaft (Beck 1986) erscheint dann alles das, was wir in unseren Wünschen nach immer mehr gerne übersehen: Die selbst produzierten Krisen in der Ökologie, der Arbeitslosigkeit, in einer Zunahme an Gewalt, Kriminalität und Ängsten. Diese Seite nennt Bauman „wasted lives“ (2004), ein verworfenes Leben, in dem es einerseits in seinen Möglichkeiten und Chancen vergeudet wird (Bildungsarmut, Krankheit, Arbeitslosigkeit), andererseits bei den Verlierern der Konsumgesellschaft so erscheint, dass sie selbst wie bloßer Abfall dieser Gesellschaft wirken.
Die Versuche, Entwicklungen und Veränderungen der Postmoderne darzustellen, lassen sich in gewisser Weise zusammenfassen, wenn wir mit Gross (1994) die Oberflächenphänomene in eine Übersicht zu bringen versuchen. Dieser Beschreibung will ich mich zuwenden, weil in ihr das Primat der Perspektivität als ein wesentliches Problem postmoderner Lebenswelt und von Handlungen in dieser selbst hervortritt und illustriert werden kann.
Die gegenwärtige Lebenswelt kapitalistischer Industriegesellschaften wird in einer Beschreibung von Phänomenen oft als gesellschaftlicher Fortschritt, genauer als ein Projekt der Moderne begreifbar, das sich durch Zerstörung und Entzauberung traditioneller, oft mythischer Werte – so Max Weber – auszeichnet. Eine Perspektive hierfür habe ich in Band 1 bereits gegeben: Die Moderne zeigt sich als eine Zunahme von Selbstzwängen bei gleichzeitiger Veränderung von Handlungsräumen (vgl. Kapitel I). Nun schauen wir aus einer lebensweltlichen Perspektive, die eher die Veränderungen von einem geschlossenen Weltbild hin zu einer relativ offenen Lebenswelt aussagt. Peter Gross hat dafür mehrere Phänomene unter dem Stichwort der Entobligationierung zusammengetragen. Ich beschreibe sie in anderer Systematik und teilweise ergänzt um weitere Aspekte, ohne damit eine vollständige Liste anstreben zu können:

  • Entgrenzung: Die Grenzen zwischen Kulturen und Nationen, zwischen ehemals relativ geschlossenen symbolischen Zusammenhängen und offenen Fortentwicklungen verschwimmen immer mehr. Die Folge ist eine geringer werdende Zahl kultureller Nischen und abgegrenzter Lebensräume. Die Obligationen für bestimmte, geschlossene Weltbilder schwinden daher. Dies hat Auswirkungen auf die menschlichen Auseinandersetzungen. An die Seite der Kriege im Namen großer Ideologien mit ihrer scheinbaren Berechenbarkeit der Motive, rückt zunehmend eine nicht mehr durchschaubare Motivlosigkeit, die sich besonders im Terror ausdrückt. Die Entobligationierung ehemals fester Grenzen in den symbolischen Selbstverpflichtungen erzeugt eine Zunahme von empfundener Willkür, die unvorbereitet jeden treffen kann.
  • Abbau überkommener Zeitstrukturen: Die Arbeitszeiten folgen nicht mehr natürlichen Zyklen. Die künstlichen Rhythmen erzwingen neue Gewohnheiten. Freizeit wird verplant und organisiert, wobei ein enormer Realisierungsdruck das erwartete Glück aus dem Jenseits in das Diesseits rückt: Viele Wünsche sollen auf einmal in immer kürzerer Zeit gelebt werden. Eine zunehmende Geschwindigkeit ist sowohl Folge als auch Voraussetzung für diesen Realisierungsdruck: Die Lichtgeschwindigkeit, in der die Wellen der modernen Massenkommunikation die Welt umrasen, verändert das Wahrnehmungsverhalten; der Fernseher als Sehmaschine bringt in Echtzeit alle Ereignisse in Direktschaltung in jeden Haushalt, so dass ein simultanes Erleben möglich wird. Aber diese Geschwindigkeit überfordert die Möglichkeiten, die Informationen noch weitreichend zu verarbeiten.  Es wird Zeit gewonnen, um die Zeit zu verlieren, sich intensiv mit der Lebenswelt in Teilbereichen auseinanderzusetzen (vgl. z.B. Virilio 1993). So schwinden die Obligationen auf natürliche Zeitabläufe, auf Rhythmen, die für alle oder möglichst viele gelten. Das Simultane macht die Kultur zugleich unkritisch und oberflächlich (vgl. z.B. Baudrillard 1994).
  • Enthierarchisierung: Ehemals stabile gesellschaftliche Perspektiven wie Stände, Klassen oder Schichten unterliegen ihrerseits der Entgrenzung und damit einer Enthierarchisierung. Lebensläufe und Lebensstile werden bevorzugt gegenüber Klassenstilen wahrgenommen. Der kapitalistische Markt drängt darauf, dass sich alle Konsumenten gleichermaßen an ehemals elitären Statussymbolen (Schmuck, Autos, Reisen usw.) erfreuen. Allerdings polarisiert die ungleiche Verteilung des Reichtums die Menschen in arm und reich, was eine versachlichte Hierarchisierung am Maßstab des Geldes gegenüber einer qualitativen (z.B. der Geburt, der Bildung) nunmehr bevorzugt. Die Herkunft wird als Zuschreibung einer dauerhaften Identität und eines berechenbaren Verhaltens zurückgedrängt und auf psychische Mustervorlieben reduziert. Geld als wesentliche Obligation befreit von alten Obligationen, die als Standesgeburt eine Schranke der Herkunft und als Bildung eine der mühsamen Qualifikation mittels Auslese darstellen und ungleich schwerer zu realisieren sind. So wächst die Illusion, dass die menschliche Freiheit mit dem Kapitalismus ihre höchste Form erreicht, weil das Geld als allgemeines Tauschmittel jedem zur Verfügung stehen kann. Illusion ist, dass die Verfügungsgewalt als gleich vorgestellt wird, aber die Besitzstände tatsächlich sehr unterschiedlich sind. Bildung wird dabei immer mehr zur Zertifizierung, die vom investierten Geld abhängig ist. Elitäre oder auch nur gut bezahlte Positionen erringen diejenigen leichter, die den Besitzständen angehören, um hinreichend ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital zu investieren, die das Zertifikat als Eingangsberechtigung (in Schulen, In Universitäten, in Jobs) sichert (vgl. z.B. Bourdieu 1987, 1992).
  • Säkularisierung: Religiöse Traditionen unterliegen einem weltlichen Druck, der ihnen zwar nicht die Projektivität raubt, aber die Perspektiven der Projektionen von sakralen auf museale, teilweise auch auf esoterische oder profane Bevorzugungen verschiebt. Hier drückt sich ein fundamentaler Wertewandel aus, der auch eine Privatisierung und Individualisierung des Heiligen bewirkt. Der Mensch wendet sich von den großen Mythen ab und den kleinen Mythemen seiner privaten Weltsicht zu. Dies korrespondiert mit einer Abwehr der ehemals großen Fragen der Mythen und Religionen: Insbesondere zeigt sich der Tod zunehmend weniger als gesellschaftliche Passage in eine höhere Ewigkeit, und das Sterben wird auch weniger als Ausdruck dieser Passage und damit als ein Ausdruck überirdischen Glücks gesehen; hingegen wird die Geburt politisch, rechtlich, technisch, kulturell aufgewertet. Die Betonung der Diesseitigkeit des Lebens, des Genusses, der Verwirklichung von Glück bei gleichzeitiger Maximierung der individuellen Realisierungschancen gegenüber sozialen Verbindlichkeiten wird zum zunehmenden Ausdruck von Reformbestrebungen postmoderner Gesellschaften. Dies führt zur teilweisen Zerschlagung sozialer Besitzstände, die aus den Klassenkämpfen der Vergangenheit herrühren. Wo früher traditionale, religiöse oder soziale Obligationen das Handeln und Denken leiteten, steht heute zunehmend eine Reduktion der Obligationen auf einen persönlichen Lebensstandard.
  • Verwissenschaftlichung drängt zwar auf eine Verobjektivierung der Lebenswelt, indem sie die Individuen unter verallgemeinerte Perspektiven stellt, indem sie Perspektiven für Normalität und Unzurechnungsfähigkeit erarbeitet und disziplinierend in der Lebenswelt begleitet, aber sie leidet dabei an einer zunehmenden Unschärfe. Ihre Obligationen werden durch Widerstreit im eigenen Begründungs- und Beobachtungsfeld schwierig, teilweise unmöglich. Je mehr sich jedoch völlig gegensätzliche Auffassungen auf ihre Wissenschaft berufen können, um so mehr wird die Wissenschaft selbst durch externe Instanzen (Politik, Massenmedien, soziale Interessenlagen usw.) entwertet.

Nehmen wir diese Punkte im Zusammenhang, dann stellen wir als Beobachter fest, dass Obligationen abnehmen, minimiert werden, um so die Optionsmöglichkeiten der Individuen zu erhöhen. Entscheidend ist, dass wir uns überhaupt als freie Beobachter sehen können, die nicht durch ihre vorausgesetzte Teilnahme (an bestimmte Vorverständigungen) schon einen erklärenden Blick für alles haben, was sie da schauen. Wir sind auf einmal in der Lage, die Beobachterrolle freier gegenüber dem Teilnehmer (der wir immer auch sind) auszuspielen, damit offener zu schauen. Wir erhöhen unsere Optionen, indem wir unsere Teilnahmen relativieren, indem wir offener auf uns als Teilnehmer, Beobachter und Akteur zu reflektieren lernen. Die gelingt, weil wir in der Teilnahme selbst auch gegensätzliche Perspektiven und Positionen vorübergehend einnehmen, wechseln, flexibel halten können, um Freiheiten als Beobachter und Akteure zu gewinnen. Zugleich beschwören wir so allerdings auch die Gefahren der Beliebigkeit.
Gross setzt die Miniobligationsgesellschaft der Multioptionsgesellschaft komplementär gegenüber. Die Obligationen aus der Vergangenheit werden nach und nach in Optionen für eine Zukunft verwandelt. Optionen sind für Gross prinzipiell realisierbare Handlungsmöglichkeiten. Die Postmoderne scheint dadurch ausgezeichnet zu sein, dass sie diese Handlungsmöglichkeiten immer weiter differenziert und ins Extreme treibt. Dies führt nicht nur zu einer Steigerung der Erlebens-, Handlungs- und Lebensmöglichkeiten, sondern auch zu einem Bewusstsein breiter Massen, die Teilhabe an diesen Prozessen zu steigern. Es wird zu einem kulturell immer wichtigeren Wert, den Grad der Teilhabe zu erhöhen.
Dabei stellt sich die kritische Frage, inwieweit dieser Wertewandel nicht zugleich eine Sinnentleerung bedeutet. Obligationen sind stets mit normativem Sinn versehen. Sie sollen Menschen in einer sozialen Perspektive auf bestimmte Handlungsweisen verpflichten. Bieten Optionen noch hinreichend verpflichtende Strukturen, um ein soziales Zusammenleben aufrechtzuerhalten?
Bevor wir auf diese Frage antworten können, ist es sinnvoll, die Optionen näher systematisch zu erfassen. Welche Beobachterbereiche für Optionen bieten sich an?
Gross unterscheidet sechs Stockwerke der Multioptionsgesellschaft (ebd., 44 ff.), die ich ebenfalls etwas modifiziert darstellen möchte:

(1) Die Basisebene der Multioptionsgesellschaft ist die Ebene der Waren und Produkte. Diese werden in immer schnelleren Zyklen, in scheinbar zunehmend individualisierter Form hergestellt. Es gehört zur postmodernen Warenästhetik, dass sie auf den Optionscharakter selbst aufmerksam macht und die Wahl der Option als Perspektive der Freiheit, des Glücks und der Erfüllung individueller Wünsche ebenso spiegelt wie als Ausdruck eines intersubjektiv nur so erreichbaren Status.
(2) Einen Stock höher befindet sich die Berufswelt. Die Berufe haben sich differenziert, was mit der Warenproduktion auf der untersten Ebene korrespondiert. Die Berufswahl ist eine Option der Moderne, die heute zeitlich immer stärker entwertet wird: Man lernt in Lebensabschnitten zunehmend mehr neue Optionen zu erwerben und zu realisieren, um den Halbwertzeiten der Waren und Märkte zu entsprechen. Arbeitsteilung, unterschiedliche Arbeitszeiten, unterschiedliche Karrieren bei relativ gleichen Ausgangspunkten, ein Nach- und Nebeneinander von Möglichkeiten und Handlungschancen, ein Auf und Ab von Qualifizierungs- und Dequalifizierungstendenzen sind für dieses Stockwerk charakteristisch.
(3) Liebe, Partnerschaft und Familie werden zu einem Optionsbereich, in dem kaum noch etwas auf Dauer geregelt ist. An die Stelle von unlösbaren Ehen rücken Lebensabschnittspartner; Kinder wachsen nicht mehr selbstverständlich in ihren Ursprungsfamilien auf; sehr unterschiedliche Formen von Zusammenleben und Familienstand sind möglich. Insbesondere im Blick auf die Fortpflanzung gilt die Option des Kinderwunsches durch die Regulation von Verhütungsmitteln. Der hohe Sinn der Optionsfreiheit in diesem Bereich wird besonders dramatisch von jenen erfahren, denen Optionen durch äußere Umstände verwehrt werden. Dies wird schnell zum Ausdruck eines schicksalhaften Unglücks (z.B. biologische Unfähigkeit, die Kinderoption wahrzunehmen, weil selbst die neuen, technischen Optionen künstlicher Befruchtung versagen).
(4) Die Lebensstile und Lebensläufe vereinigen in der Postmoderne so ziemlich alles aus der Vergangenheit, was möglich ist. Lebensentwürfe entbinden sich zusehends von Alter, Geschlecht oder sozialer Schicht. Dies zeigt sich z.B. im Beruf an einzelnen, aufeinander folgenden Karrieren (oder deren Scheitern), an serieller Monogamie, die sich in aufeinander folgenden Ehen ausdrückt usw. Es zeigt sich auch in einer Anhäufung von Optionen, indem mehrere Berufe oder Partnerschaften gleichzeitig geführt werden.
(5) Die Erlebniswelten zeichnen sich insbesondere durch eine zunehmende Teilhabe an den virtuellen Angeboten der Massenmedien aus. Diese werden zum Schrittmacher aller Optionsbereiche (ebd., 40). Diese Welten führen einerseits zu einer Verlagerung der Erlebnisse in die Häuser und damit zu einer Isolierung der Erlebenden, oder sie steigern andererseits Erlebnisangebote so, dass sie als außerhäusliche Angebote noch attraktiv bleiben (im Kino z.B. Riesenleinwände mit großem Soundapparat). Die Virtualisierung benutzt, wie ich schon hervorgehoben habe, die imaginäre Kompetenz, um sie durch ein simultanes Angebot gleichzuschalten. Dies korrespondiert mit einer Werbung für die Angebote aus dem ersten Stock, mit einem Bildungsangebot für den zweiten Stock, das in leichter und lockerer Aufmachung bevorzugt wird, mit Seifenopern für den dritten Stock, in denen Glücksfantasien (oder Horrorszenarien als Abwehrfantasien) entwickelt werden, mit einer Pluralisierung des Angebotes insgesamt, um den unterschiedlichen Lebensstilen nach Marktsegmenten zu entsprechen. Je ähnlicher sich lebensweltliche Darstellungen und Werbung werden, desto stärker rückt die Optionierungsfalle vor: Sie gaukelt eine Freiheit der individuellen Entscheidung vor, die längst zum Ausdruck größter Simultaneität von Darstellungen und Gleichschaltung von Imaginationen geworden ist.
(6) Es bleibt die symbolische Sinnebene als höchstes Stockwerk. Wahrheit und Weltverständnis werden hier in immer größerem Widerstreit erzeugt und abgelegt. Wissenschaft, Religion, Esoterik und Politik stehen in einem konkurrierenden Nebeneinander, eine Meinungsvielfalt entwickelt wechselnde Moden, die aber keine Kraft mehr zu universellen Erklärungsansätzen auf Dauer finden. Insoweit dekonstruiert die Sinnebene die eigene Mächtigkeit, die nur noch in historischen Erinnerungen angemahnt oder erwünscht werden kann.

Die Stockwerke, die hier als recht einheitliches Bild dargestellt sind, zerfallen in der Lebenswelt in viele Konstrukte. Insoweit helfen die Stockwerke nur, uns überhaupt ein Gebäude vorzustellen, das noch eine Art Ordnung symbolisiert. Günstiger wäre es wohl,  sich ein Bild eines virtuellen Raumes vorzustellen, in dem alle diese Optionen enthalten sind, ohne dass ihnen noch ein fester Platz zugeschrieben werden kann. Man mag noch nicht einmal eine klare Logik in diesem Feld erkennen, weil die Beobachtungsbereiche zu heterogen sind. So könnte man gegen das Gebäude argumentieren, dass in jedem Stockwerk bereits eine Sinnebene schlummert. Auch werden durch das Bild der Stockwerke die zirkulären Wechselwirkungen zu wenig betont. Aus unserer konstruktivistischen Sicht sehen wir auch hier einen Primat der Perspektivität am Wirken: Als Beobachter konstruieren wir uns noch das Bild eines ganzen Hauses, um das Heterogene in Stockwerke des Beobachtens zu bannen; längst aber müssen wir zugeben, dass wir immer schon Teil dieser Lebenswelt in einem kaum überschaubaren Netzwerk von Beziehungen sind.
Wenn wir nach Ursachen für die Zunahme der Optionen und die Abnahme traditionaler Obligationen suchen, dann bietet uns Gross bloß weitere Phänomene der Lebenswelt an: In der Post/Moderne ist eine erhöhte Mobilisierung, eine Beschleunigung, eine Multiplikation der Optionen selbst, ein Glaube an die Diesseitigkeit des Lebens mit Wunschmaximierung, eine ewige Revolutionierung aller irdischen Aufgaben, ein ständiger Realisierungsdruck im Diesseits als letzte Sinnerfüllung (damit grenzenloser Materialismus), eine Individualisierung der Realisierung selbst zu erkennen. Diese Beschreibungen erscheinen wie Überschriften an den Treppenhäusern in den konstruierten Stockwerken oder wie flüchtige Fahnen im Netzwerk Lebenswelt, eine Ursache im eindeutigen Sinne stellen sie nicht mehr dar. Es sind Beschreibungen einer lebensweltlichen Situation, die offensichtlich nur dadurch zu erklären ist, dass sie ist. Hier begegnen uns Phänomene wie Aufklärung und Unaufgeklärtheit, Technisierung und Technikfeindlichkeit, Kommerz und alternatives Denken, Demokratisierung und die Sehnsucht nach starken Führern. Was wird auf Dauer die Oberhand gewinnen?
In der Lebenswelt helfen wir uns an solchen Stellen durch Beobachtertheorien, die das Mythische entzaubern, das Heilige entweihen, das Fatale aus dem Sog des Determinismus befreien, das Einheitliche in seiner Differenz zeigen. Dies erscheint als eine unendliche Arbeit an der Realität. Was bringt uns diese unendliche Arbeit ein? Können wir wenigstens Mindestanforderungen definieren, die wir bei lebensweltlichen Beobachtungen als Konstruktivisten anzustellen haben? Oder bleiben wir den Phänomenen, wie wir es für die Multioptionsgesellschaft beschreiben, nur als Optionen für ein Vielleicht, für etwas Gegensätzliches, Singuläres, Uneindeutiges und oft auch Belangloses ausgeliefert?

>> zurück zum Inhaltsverzeichnis und zur Auswahl der Kapitel

Powercounter