3.6. Zum szientistischen Missverständnis der Psychoanalyse
In „Erkenntnis und Interesse“ (1975) hat Jürgen Habermas sich kritisch mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt. Dies geschieht bei ihm aus einer besonderen Perspektive, die sehr stark sprachliche Prozesse in den Vordergrund rückt.1
Habermas sieht vor allem zwei Probleme, die zu einem szientistischen Missverständnis der Psychoanalyse führten. Zunächst wurde in ihr ein naturwissenschaftliches Verfahren, von dem Freud immer wieder auszugehen versuchte, mit hermeneutischen Methoden verbunden. Es blieb methodologisch ungeklärt, ob dies überhaupt begründend geschehen kann. Sodann erweitert sich das hermeneutische Verfahren über eine biografische Erforschung und narrative Aspekte hinaus zu einer Übertragungssituation, die uns näher hinschauen lassen muss, inwieweit hier Selbstreflexion und methodisches Vorgehen überhaupt gesichert sind.
Nun sind die Einwände von Habermas schon sehr auf seine Kritik zurechtgestutzt, wenn er z.B. von Textfehlern (ebd., 268), Pathologien als verderbten Texten (ebd., 269), hermeneutischer Entschlüsselung von Traumtexten (ebd., 270) spricht, was die ursprünglichen Ansprüche Freuds vereinseitigt.2 Die Hervorhebung des Textes des Traumes unterschätzt nämlich die bildlichen und emotionalen Gefüge der Traumwelten nicht unerheblich. Dies liegt daran, dass Habermas letztlich alle Aussagen auf das von ihm konstruierte Gefüge sprachlicher Bezogenheiten, auf seine sprachpragmatische Wende, zurückbezieht und damit nivelliert. Dies führt zu einem sprachlogischen Missverständnis der Psychoanalyse, das die Breite der Psychoanalyse zu stark verkürzt. Gleichwohl benutze ich diese Kritik, um hierüber einige mir relevant erscheinende Punkte der Freudschen Kränkung an den Rationalitätsansprüchen der Moderne zu verdeutlichen und gegen eine verkürzende Kritik abzusichern:
(1) Verdrängung erscheint Habermas als ein Ausdruck dafür, unerwünschte Bedürfnisdispositionen dadurch unschädlich zu machen, dass sie aus der öffentlichen Kommunikation ausgeschlossen werden (ebd., 274). „Bewusste Motivationen, die im öffentlichen Sprachgebrauch präsent sind, werden durch den Mechanismus der Verdrängung in unbewusste, gleichsam sprachlos gewordene Motive verwandelt.“ (Ebd.) In dieser Privatisierung sieht Habermas zugleich das methodische Verfahren der Analyse, die den Riss zwischen privatisierter und öffentlicher Kommunikation auszugleichen bestrebt ist. „Weil die Symbole, welche die unterdrückten Bedürfnisse interpretieren, aus der öffentlichen Kommunikation ausgeschlossen sind, ist die Kommunikation des sprechenden und handelnden Subjekts mit sich selber unterbrochen.“ (Ebd., 278) Die privatisierte Sprache der damit verbundenen unbewussten Motive ist dem Ich entzogen, so dass der Therapeut als Interpret des gestörten Textes auftreten kann, indem er den Patienten anleitet, „die eigenen, von ihm selbst verstümmelten und entstellten Texte“ zu lesen „und Symbole von einer privatsprachlich deformierten Ausdrucksweise in die Ausdrucksweise der öffentlichen Kommunikation“ zu übersetzen. (Ebd., 280) Darin aber entdeckt Habermas eine Selbstreflexion, was ihn analog zur Hermeneutik zu einer Ansicht führt, dass Verdrängungen mittels solcher Reflexion aufgehoben werden können.
Habermas ist sich im weiteren Verlauf seiner Argumentation durchaus darüber klar, dass die Psychoanalyse eine Therapie nicht vorrangig durch sprachlichen Diskurs, sondern durch Übertragung erreicht. Offensichtlich sieht er diese jedoch als überwiegende sprachliche Bearbeitung und unterschätzt den beziehungsmäßigen, emotionalen Anteil, der für praktizierende Psychoanalytiker in der Regel den eigentlichen Anspruch von Übertragungen ausmacht – selbst wenn dies sprachlich bearbeitet wird. Auch wenn Habermas erkennt, dass hierbei affektive Widerstände mit kognitiven koexistieren (ebd., 281), so sieht er doch nicht hinreichend, dass die Erinnerungsspuren der Patienten, dass das Durcharbeiten nicht einer Selbstreflexion im Sinne dynamisierter kognitiver Leistungen (ebd., 283) in erster Linie dienen soll, sondern unter der Dominanz affektiven Leidens und Erlebens steht und damit immer mehr als ein Text oder Beispiel zu diesem ist. Dies wird mit Lacan sehr bewusst, weil er das Unbewusste als Diskurs des a/Anderen sieht, wie im vorangegangenen Kapitel erläutert wurde. Es geht in dem analytischen Diskurs nach Lacan dann um ein Begehren des Psychoanalytikers, das sich auf ein Subjekt, seinen Patienten, richtet, um von diesem Äußerungen produzieren zu lassen, die in sein Wissen über das Unbewusste zurückgehen. Sie können beide nicht direkt auf der inhaltlichen Ebene über dieses Unbewusste kommunizieren, sondern benötigen die imaginative Achse ihres wechselseitigen Begehrens aufeinander, um solches Wissen über den Diskurs des a/Anderen zu bewahrheiten. Solche Selbstreflexion ist dramatisch von einer kognitiven Aufklärung der Vernunft und deren Selbstreflexion unterschieden. Der Diskurs der Universität nämlich richtet sich nach Lacan ausgehend vom Wissen auf eine Mehrlust nach immer weiterem Wissen, wobei es Subjekte produziert, die für sich dieses Wissen in Form von meisterlichen Aussagen zusammenfassen sollen, was das Wissen insgesamt zu bereichern scheint. Aber die Subjekte vermögen nicht jeder für sich solche Meistersignifikanten herzustellen, die ausschließend wahres Wissen wären. Sie können dies nur in der Illusion der Befangenheit ihrer Zeit, aber nicht in den wechselnden Interessen von Verständigungsgemeinschaften. Deshalb kann der universitäre Diskurs in seinem hohen Anspruch vom analytischen Diskurs lernen, weil dieser die Unmöglichkeit eines Begehrens zeigt, das den Anderen vollständig zu erklären trachtet, weil man in der Beziehungswirklichkeit mit anderen Worten erkennen muss, dass der Andere am Platz der Produktion von Meistersignifikanten steht, die jene Wahrheiten entstehen lassen, die wir ihnen verständigend zuschreiben und die uns in unserer Zeit – durch das Apriori der jeweiligen Verständigungsgemeinschaft – zugedacht sind. Selbstreflexion wird hier dann zur Maßgabe, sich beobachtend in dem jeweiligen Diskurs zu situieren, in dem man nur spezifisch etwas sehen kann, und sich die Verständigungsgemeinschaft deutlich zu machen, die solches Können stützt und teilt. Für Lacan ist daher im Wechselspiel von Agierenden, von Anderen, von Produktion und Wahrheit, wie er die Plätze des Diskurses nennt, nach dem Subjekt, dem Begehren, den Meistersignifikanten und dem Wissen zu fragen, um darin zu enthüllen, dass es unmöglich ist, ein anderes Subjekt über das eigene Begehren inhaltlich zutreffend auszusagen (Grenze des analytischen Diskurses), dass es aber auch ein Unvermögen des Wissen produzierenden Subjekts darstellt, jene ausschließenden Meistersignifikanten zu produzieren, die ein für allemal wahres Wissen fixieren (Grenze des Diskurses der Universität).
(2) Auch in der Psychoanalyse gibt es allerdings Missverständnisse, was die Wahrheitsposition der Analyse selbst betrifft. Es hat sich mitunter ein Verständnis von Psychoanalyse entwickelt, das widersprüchlich zwischen Wissensanspruch und Übertragungsleistung bleibt. In der Übertragungsneurose, die durch die Behandlung ausgelöst wird, scheint der Analytiker im Besitz eines Wissens zu sein, das sich als Erkenntnis besonders sprachlich situiert, um hieraus den Patienten zur Psychoanalyse zu überreden, weil diese eine rationalisierte Heilungschance zu bieten scheint. Geheilt wird dann nur derjenige, der selbst psychoanalytisch zu denken und zu argumentieren beginnt. Der Psychoanalytiker ist damit ein eigenartiger Schamane des besseren Wissens, der für die unterschiedlichsten Erlebniswelten seiner Patienten immer schon Ursprungserklärungen einer vermeintlich objektiven, unbewussten Welt bereithält, „um die Herauslösung von Symbolen aus dem öffentlichen Sprachgebrauch, um eine privatsprachliche Verzerrung der geltenden Regeln der Kommunikation einerseits, um eine Unschädlichmachung der mit den ausgeschlossenen Symbolen verknüpften Handlungsmotive andererseits“ (ebd., 285) zu problematisieren, zu bestimmen und durch Deutungen zu heilen. In einer solchen Haltung liegt eine Gefahr der Psychoanalyse selbst, der Freud nur dadurch halbwegs entging, dass er sein Konzept des Unbewussten ständig variierte, an die Bedingungen klinischer Analysen anpasste und damit immer wieder verwarf. Bei Habermas hingegen, der diese Verwerfungen auf den Blick der sprachlichen Kommunikation konzentriert, entsteht durch den einseitigen Blick ein eigenes Selbstmissverständnis: Es scheint an der Wiederherstellung abgespaltener Regeln, an der Beseitigung gestörter inhaltlicher Kommunikation, an dem Festhalten einer rationalisierten Wahrheit zu liegen, dass Selbstreflexion überhaupt möglich bleibt und notwendig ist. Damit aber sieht er nicht hinreichend die andere Seite Freuds: Zweifel, Wechsel, Veränderung der Beobachtung durch den Prozess des therapeutischen Beobachtens selbst. Für Lacan wird dies durch seine Konzeption des Realen ausgedrückt, die er der imaginären und der symbolischen Welt entgegensetzt. Eine kognitive Vernunft und Aufklärung über kommunikatives Handeln findet nach Lacan nur auf der symbolischen Ebene statt. Damit verkennt Habermas sowohl die Bedeutung der imaginären Begegnung und Spiegelung des wechselseitigen Begehrens, das durch bloße Kognition trotz Anerkennung von Interaktion zu sehr ausgelöscht wird, als auch das Unbegreifliche, Widerständige, Körperliche, was im Realen erscheint und selbst gegenüber den Wunschwelten des Imaginären jene Grenze der Unheimlichkeit bildet, über die Symbolvorräte oder kognitivistische Tröstungen eines abstrakten kommunikativen Handelns bloß hinwegtäuschen können.
(3) „Die begrifflichen Konstruktionen Ich, Es und Über-Ich verdanken ihre Namen nicht zufällig der Erfahrung der Reflexion. Sie sind erst nachträglich in einen objektivistischen Bezugsrahmen versetzt und uminterpretiert worden.“ (Ebd., 290 f.) Gewiss hat Habermas recht, wenn er kritisiert, dass Freud durch seinen naturwissenschaftlichen Anspruch und seine Suche nach kausalen Erklärungen alle begrifflichen Umschreibungen seines Konzepts in objektivistische Bezüge uminterpretiert. Durch diese allgemeine Aussage aber gehen Feinheiten verloren, die gerade das Strukturmodell als ein Modell unterschiedlichster Beobachterperspektiven eröffnet. Freud gelang es durch die Differenzierung ökonomischer, dynamischer und topischer Aspekte das Strukturmodell von Ich, Es und Über-Ich bis hin zur Widersprüchlichkeit der Beobachtungen selbst zu treiben. An seinem scheinbar objektiven Strukturmodell ließen sich einerseits Beobachtungen kontrollieren, indem sie auf das Modell zurückbezogen wurden, andererseits aber wurde auch das Modell zur befragbaren Stelle, weil es die Fülle der Beobachtungen nicht hinreichend deuten ließ. Dies führte in der Geschichte der Psychoanalyse zu nicht unerheblichen Entwicklungen zu einer Ich-Psychologie, einer Narzissmuskonzeption, zu sprachlogischen Verknüpfungen und Widerstreitigkeiten – so auch zur Psychoanalyse Lacans –, weil die allgemeine Begrifflichkeit nie hinreichend war, um individuelle Therapien in diesem Erklärungsrahmen zu rekonstruieren. So wuchs bei etlichen Psychoanalytikern ein Bewusstsein für die Konstruktivität der eigenen Modelle, denn es ist ja gerade das Wesen des Unbewussten, offen für die unterschiedlichsten Sichtweisen bis hin zur Sprachlosigkeit zu sein. Bei den Begriffen handelt es sich im Grunde nur um Beobachterbereiche mit wechselnden Fokussierungen, so dass sie für Auslegungen und Entwicklungen offen waren und sind. Dies reicht bis hin zur Auflösung der Psychoanalyse in eine systemisch operierende Familientherapie.3
Die Behauptung von Habermas, dass eine Theorie der Sprache eigentlich vorgängig zu den psychoanalytischen Erklärungen, die Textverzerrungen auflösen will, sein müsse, ist nur eine der beobachtenden Möglichkeiten.4 Die Verbindung von Sprache und libidinösen Bedürfnissen erscheint zwar als für den Menschen gegeben, aber sie ist keineswegs so unstrittig, wie sie allgemein erscheint. Wird Kommunikation auf sprachliche Prozesse reduziert oder auch nur fokussiert, so entgehen andere Beobachtungsbereiche, die die scheinbare Dominanz des Sprachlichen relativieren. Wenn Habermas die bei Freud gebräuchliche Unterscheidung zwischen Wortvorstellungen, die bewusst oder vorbewusst sein können, und unbewussten Vorstellungen, die sich an einem für uns nicht näher bezeichenbaren Material entwickeln, für problematisch und undurchführbar hält, dann wird die Sprache zu einem maßlosen Anspruch, weil sie für alles gilt. Diese Maßlosigkeit erscheint etwa, wenn Habermas Freuds Deutung des Über-Ichs als einer Instanz mit Besetzungsenergien interpretiert. Freud sagt, dass sich das Über-Ich zwar auf Wortvorstellungen aufbaut und sich aus diesen auch zusammensetzt, aber seine Besetzungsenergie nicht aus den Inhalten des Über-Ich, also nicht aus Hörwahrnehmungen gewinnt, auch nicht aus Unterricht oder Textquellen schöpft, sondern einzig und allein aus den Quellen des Es zugeführt bekommt. Habermas deutet diese Aussage „als eine Art Sakralisierung bestimmter Sätze durch die Verknüpfung mit verdrängten libidinösen Handlungsmotiven“ (ebd., 298) um. Dadurch bemängelt er, dass die sprachlichen Sätze so zwar nicht der öffentlichen Kommunikation entzogen, aber doch gegen alle sprachlichen kritischen Einwendungen immunisiert werden. Dies aber ist gar nicht Freuds Problem, der ja eben ein nichtsprachliches Phänomen von Trieben in den beobachtenden Fokus nimmt. Mir scheint daher nicht das Fehlen einer Theorie der Sprache bei Freud als problematisch, sondern das Fehlen einer Beobachtertheorie, die aussagt, in welchen Bereichen wir mit welcher Schärfe von Bildern oder Worten, von nichtsprachlichen Gefühlen oder symbolisch Gefühltem fokussieren. Dies meint auch, eine kausale Beanspruchung von Wahrheit im psychoanalytischen Modell durch die Gewahrwerdung des konstruierenden Beobachters zu relativieren. Es geht aber weniger darum, welches nichtsprachliche Material in welchen Bereichen gegenüber bewussten und vorbewussten Wortvorstellungen denn gemeint ist, es geht hier – im Kränkungsfeld von bewusst und unbewusst – nicht darum, wie Habermas es intendiert, eine Sprachbedingung hierfür zu finden, um dadurch einen letzten Rationalitätsstandard zu retten. Zwar mag auch die Affektivität ihre eigene Sprache haben, wenn wir über sie sprechen, aber dieses Sprechen ist doch nie mit ihr gleichzusetzen. Sexualität löst sich nicht in Sprache auf, auch wenn besonders über sexuelle Handlungen „geredet“ wird. Aber die Differenz zwischen Sinnlichkeit und Sprache ist nicht hintergehbar. Deshalb ist es – dies als Kritik an Habermas – problematisch, keine Distinktion zwischen Wortvorstellungen und wortlosen, begriffslosen, symbolfreien Vorstellungen zu treffen. Es sind Vorstellungen, die uns nicht in der Form der Sprache begegnen, Imaginationen, die als Gefühl zwar jenes dehnen, verdichten, verschieben, bearbeiten, was irgendwo auch sprachlich sein mag, was mehr noch bildlich ist und in uns z.B. als „ozeanisches Gefühl“, als Weite, als Erinnerung eines Déja-Vu, eines Neuen, Unbekannten und doch irgendwie Erahnten und wie auch immer entwickelt wird. Für die möglichen Verwirrungen in diesen Beobachtungen liefert Lacan ein anregendes Beispiel, wenn er vom Realen spricht, das gerade jene Lücke bezeichnet, jenes Loch, in das wir stürzen, wenn wir eben noch symbolisch sicher uns ausgesagt oder imaginär etwas vorgestellt haben.
(4) Damit ist nun auch deutlich, dass sich die Freudsche Technik der Deutung, die sich in der Praxis der Übertragung entwickelt, nicht durch eine rationalisierte Begründungslehre im Hintergrund wird beweisen oder aus höheren Ansprüchen herleiten lassen. Hier ist Freud durchaus dekonstruktivistisch, obwohl er letztlich nach einer Gesamterklärung sucht. Aber er findet diese nicht, sondern immer nur Ergänzungen und Umarbeitungen seines Konzeptes. Deshalb ist Freuds Theoriesprache, um die Kritik von Habermas aufzunehmen, in der Tat ärmer als die Sprache, in der er seine Technik beschreibt (ebd., 299). Aus der Technik der Analyse heraus gewinnen seine Beobachtungskonstrukte ihren Wert. Wer dies übersieht, der wird dem Anspruch Freuds nicht gerecht. Habermas versucht nämlich, die Selbstreflexion gegen ein Modell des Ichs bei Freud zu retten, in der das Ich nur unter Spannung von Es und Außenwelt und Über-Ich zu Abwehrleistungen gelangt. Wo bleibt hier die positiv-aufklärende Seite? Wo die Selbstreflexion? Für Freud ist diese rationale Seite aber immer in die Spannung selbst eingebunden. Es gibt für ihn kurzum keinen libidinös freien Raum von Rationalität und Sprache und mithin auch keine Selbstreflexion, die nicht zugleich sich selbst als Sublimation in ihrer Wertung von Reinheit betrügt.
Nun könnte man Freud allerdings vorwerfen, dass er durch die Beobachterkategorien doch eine Selbstreflexion einbringt, indem er seine Theorie als Modus von Beobachtung und auch die Beobachtungsvorräte selbst bestimmt und deutlich kontrolliert. Genau dies wird sich auch als Schwachstelle des Ansatzes immer dann erweisen, wenn der Analytiker meint, nun die wahre Wirklichkeit seines Patienten herausgefunden zu haben. Gegen eine solche Selbstüberschätzung aber hat Freud den Dialog mit Patienten und die Situation der Übertragung eingesetzt, so dass zumindest verschiedene Beobachterperspektiven und Intuitionen hier aufeinandertreffen. Es ist dies die einzige Chance, eine starre Selbstreflexion, die zur Illusion eines Objektivismus wird, zu vermeiden. Und genau hier ist auch der Punkt, wo in der Praxis der Psychoanalyse der naturwissenschaftliche Ansatz, der seelische Vorgänge wie Gegenstände zu betrachten bestrebt war, zum Scheitern kam. Freud hat dies gewiss nur bedingt gesehen, aber dennoch auch dadurch produziert, dass er eben keine Gewissheit eines seiner stets von ihm veränderten Modelle erreichen konnte.
(5) Eine empiristische Kritik an Freud ist immer wieder vorgebracht worden.5 Auch Habermas betont, dass das Energiemodell von Freud nicht experimentell quantitativ überprüft wurde. „Das Modell des seelischen Apparates ist so gefasst, dass von den Ereignissen, über die die Metapsychologie Aussagen macht, Beobachtbarkeit zwar sprachlich assoziiert, aber tatsächlich nicht eingelöst wird - und nicht eingelöst werden kann.“ (Ebd., 308) Genau dies aber ist die Kränkung, die Freud dem Rationalismus beigebracht hat. Das Unbewusste kann in der Tat nicht empirisch im Sinne eines Laborexperimentes eingeholt werden. Es ist nur dort spürbar, wo in der Kommunikation von Menschen jener Riss auftaucht, der im Inneren erlebt und gespürt, der im Äußeren erahnt und übertragen werden kann. Die geniale Leistung Freuds besteht gerade darin, dass er uns Beobachtbarkeit in einem neuen Sinne erschlossen hat: Nicht als ein Messen im technischen Sinne, nicht als ein Auszählen oder wie auch immer Quantifizieren, sondern als eine Perspektive auf die verborgensten, verwobensten und verwickeltsten Teile unserer Person und ihr Zusammenwirken mit anderen Menschen. Solche Beobachtung wurzelt in der Intuition, im menschlichen Kontakt, in der Unaussprechlichkeit von Gefühlen und erahnt immer, dass die sprachliche Durcharbeitung etwas anderes ist als das, worüber man spricht. Es ist eine Beobachtung der Differenz zwischen dem, was gesagt wird, und einem Unbewussten, was irgendwo als irgendwas ist und trotzdem sprachlich erscheint. Es ist damit durchweg auch Projektion eines Beobachters, allerdings unter der Voraussetzung, dass menschliche Kommunikation diese Seite notwendig umfasst und sich nicht in Rationalität erschöpft. Rationalität selbst ist vielmehr fragwürdig geworden, weil sie immer auch als Frage nach der ganzen Person, die mit ihren rationalen Teilen operiert, gilt, weil sie aus diesem Wechsel des Blickwinkels nunmehr die in der menschlichen Aufklärungsbewegung vorhandene Dominanz des Rationalen selbst bezweifelt und in neue Kontexte wie die Sublimation zu stellen in der Lage ist. Damit aber irrt Habermas, wenn er meint, dass die Psychoanalyse Freuds eine allgemeine Interpretation von Bildungsprozessen einschließt (ebd., 309), weil Freud das Postulat aufgestellt hat, dass aus Es Ich werden soll. Dieses Postulat bezieht Freud nicht auf Bildung, sondern auf psychische Spannungen, die nicht durch Rationalisierungen eines Ichs verschwinden. Im Blick auf Habermas und seine Bevorzugung der Sprache könnte ein Psychoanalytiker vielmehr geneigt sein, ein rationalisiertes Lösungskonzept von eigenen Trieb- und Realitätsspannungen zu vermuten, das die Widersprüchlichkeit menschlicher Beziehungen abwehren muss.6 Für Freud bleibt keine ideale Sprech- und Kommunikationsgemeinschaft, auch wenn er sich wünscht, dass die Menschen möglichst friedlich miteinander auskommen mögen. Aber es ist ein ambivalenter Friede, den Freud durch die Beobachtung von Erfahrungen seelischen Lebens und seiner Widersprüche uns verständlich machen will.
Mit Lacan haben wir gesehen, dass eine stille und den Geltungsansprüchen des kommunikativen Handelns unterstellte Beziehung von Menschen nur symbolisch hergestellt werden könnte, damit aber zugleich an die Grenzen des Begehrens unterschiedlicher Menschen geraten müsste und den Unheimlichkeiten des Realen ausgesetzt bleibt. Eine vernunftbezogene, kognitive und rationalisierte Bestimmung von Kommunikation kann aus dieser Sicht nur als Grenzfall von Kommunikation überhaupt erscheinen, als eine Abstraktion auf höchste Symbolik, was ein spezifisch reduziertes Begehren ausdrückt. Für Lacan aber wäre ein Begehren, das das Begehren selbst aus der Kommunikation entfernt, nur eine weitere Spielart der Sublimation, die sich nicht auf die ganze Breite menschlich kommunikativer Begegnungen und Beziehungen einzulassen gewillt ist.
(6) Praktizierende Psychoanalytiker berichten sehr oft darüber, dass eine Analyse eigentlich nie endet. Patienten finden an bestimmten Krisenpunkten immer wieder in ihre Praxis zurück. Demgegenüber scheint eine gelungene Analyse – wenn man sie aus dem Blickwinkel eines Vernunftideals formuliert – dann abgeschlossen, wenn sie ihren End- und Schlüsselpunkt gefunden hat. Habermas wendet dies wiederum auf Selbstreflexion und den darin liegenden Bildungsprozess: „Der Endzustand eines Bildungsprozesses ist nämlich erst erreicht, wenn sich das Subjekt seiner Identifikationen und Entfremdungen, seiner erzwungenen Objektivationen und seiner errungenen Reflexionen als der Wege erinnert, auf denen es sich konstituiert hat.“ (Ebd., 317)
Welcher Beobachter jedoch sollte in der Lage sein, ein Ende festzustellen? Der Patient, der von seinem Leiden befreit werden will? Für ihn mag ja ein neuer Bildungsprozess überhaupt erst durch die Analyse möglich werden, weil er alle Erlebnisse in sich so verstellt hat, dass er aus ihnen nicht mehr heraustreten kann. Für ihn wird es in der Analyse aber weniger darauf ankommen, Anfang und Ende zu situieren, als sich vielmehr in seinen Möglichkeiten zu begreifen, verschiedene neue Sichtweisen aufzunehmen und sich darin besser erleben und zulassen oder distanzieren zu können. Er ist froh, hierbei moralisch entlastet zu werden. Insoweit sind weniger die Wege, auf denen sich dies Subjekt konstituiert hat, interessant, als vielmehr die Abzweigungen und Bruchstellen, die hiermit verbunden sind, die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in der Vergangenheit allein nur, um diese in der Gegenwart und Zukunft in eine neue Sicht zu verwandeln. Der Analytiker wird sich hüten, Endzustände erreichen zu wollen. Das Gespräch ist wie ein Fluss, in dem die Imaginationen schwimmen und die Landschaft dieses Flusses selber formen. Auch der Analytiker ist nicht frei vom Erleben, von Gefühlen und tiefen Ängsten, allein, dass er hierauf vorbereitet ist, mag die Situation entschärfen und sollte sie kontrollierbar halten. Aber weder Patient noch Therapeut sitzen im akademischen Seminar, um sich auf der Inhaltsebene über die Konstitution von Bildungsprozessen auszutauschen. Hier hat Freud uns unschätzbare Dienste erwiesen, weil er das Gespräch aus jenem Bereich forttreibt, der Kommunikation als bloße Inhaltlichkeit begreift. Für Freud war Kommunikation in der Therapie ein hochgradig emotionaler Vorgang, der in der Gegenübertragung gerade auch den geschulten Therapeuten betrifft und gefühlsmäßig überschwemmen kann. Mit Freuds Theorie der Übertragung zeigt sich eine Unterscheidung von rationalem Gespräch auf der Inhaltsebene, von kontrollierten Dialogen und einer Beziehung zwischen Patient und Therapeut an, die viel tiefer liegt als der sprachlich vermittelte Prozess. Deshalb ist Therapie nicht in erster Linie kognitive Selbstreflexion, sondern ein tiefes Erleben von Übertragungen.
(7) Hierin erscheinen beobachtende Personen, die im Gegensatz zur Herkunft der Theorie die Kausalität gerade nicht bewahren können, sondern auflösen müssen. Die Psychoanalyse ist kein medizinisches Modell, das in der Diagnose eindeutig Medikamente oder Behandlung zuschreibt. In ihr wird solche Zuschreibung erst im Dialog erfahrbar und erlebbar. Damit allerdings steht sie im Widerstreit der Vorgängigkeit von Deutungsschablonen der Therapeuten und Sichtweisen von Patienten. Je mehr sie den Patienten eine eigene Sicht zubilligen kann und will, desto mehr löst sie die Vorgängigkeit der eigenen Konstrukte auf. Dies führt zu nicht unerheblichen individuellen Differenzierungen der Psychoanalyse durch die je individuellen Praktiker. Die Geschichte der Psychoanalyse ist daher durch einen Prozess des Driftens in immer neue Variationen von Beobachterkonstrukten geraten, die bis hin zur Selbstauflösung des psychoanalytischen Paradigmas reichen können. Dieser Möglichkeit verdanken viele andere, mittlerweile konträr zur Psychoanalyse stehende Ansätze ihre Möglichkeit. Dies besagt allerdings auch nicht, dass am Anfang all solcher Möglichkeiten nur die Psychoanalyse stehen kann und darf. Es gibt seit der Psychoanalyse genügend andere Richtungen in der Gestalttheorie, der humanistischen Psychologie, die gleichermaßen Gesprächssituationen produzieren, aus denen heraus ein Driften in Richtung der Ermöglichung immer neuer Beobachterperspektiven entsteht. Die Psychoanalyse ist aber aus meiner Sicht der namhafteste und theoretisch interessanteste dieser Versuche.
Fußnoten
1 Eine Auseinandersetzung mit dieser Perspektive erfolgte bereits in Kapitel II.2.4.
2 Habermas stützt sich hierin vor allem auf Alfred Lorenzer.
3 Vgl. dazu beispielhaft Stierlin (1994).
4 Es verwundert hierbei schon, dass Habermas diese in „Erkenntnis und Interesse“ nur auf Alfred Lorenzer und nicht auf die grundlegenden Arbeiten von Jacques Lacan bezieht.
5 Ein interessanter Versuch findet sich bei Grünbaum (1988). Allerdings will Grünbaum keineswegs die Kränkung wahrnehmen, die Freud den empirisch orientierten Theorien selbst beigebracht hat. Insoweit bringen solche Kritiken oft nichts als neue Missverständnisse.
6 Habermas (ebd., 312) erkennt die Notwendigkeit einer Triebtheorie zwar an, wendet diese jedoch aus dem naturhaften Objektivismus in einen symbolischen des Geistes.