Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel II.3

   

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3. Die dritte Kränkung: bewusst und unbewusst

Bereits Schopenhauer und Nietzsche hatten auf jene andere, dunkel gebliebene Seite der Vorstellungen aufmerksam gemacht, die mit Freud prägnant als Theorie des Unbewussten entwickelt wurde. Seitdem wird die Subjektposition vor eine entscheidende Probe gestellt. Schon der Begriff des Unbewussten musste für philosophische Überlegungen heikel bleiben, weil wir ja immer nur bewusst von etwas sprechen, über etwas Zeichen bilden können. Wie aber lässt sich dann je das Unbewusste fassen, wenn es nur bewusst formulierbar ist?
Die philosophische Kritik rührt an die Formulierung, aber nicht an die Erfahrung des Unbewussten. Während Kant noch das Träumen vom Wachen unterschied, um mittels des Fürwahrhaltens durch einen Dritten ein Kriterium dafür zu gewinnen, was wahr sein könne,1 erörtert Freud den Traum als Zugang zu eigenen, subjektiven, verborgenen Orten eines Bewusstseins, das sich zwar als Ich artikuliert, aber viel komplizierter als ein abgeschlossen-eindeutiges Ich in sich situiert ist. Im Inneren des Subjekts lassen sich topologisch gedacht verschiedene Strukturen konstruieren, die uns Seiten dieses Subjekts unterscheiden helfen, um seine komplizierte, triebbezogene Spannung gegenüber Objekten der Außenwelt begreifbarer werden zu lassen und die Wechselwirkungen seiner inneren Stimmen (auch Sprachen, Zeichen, dabei vor allem: Vorstellungen und Gefühle) zu veranschaulichen. So kognitiv selbstbewusst sich dieses Subjekt im Anerkennungskampf mit anderen Subjekten auch zeigen mag, so sehr im Fürwahrhalten der Subjekte untereinander ein Ring- und Karrierekampf um Interessen und Aus­legungen auch bestehen mag, so wenig ist damit menschliches Selbst-Bewusstsein erschöpft. Es ist innerlich zerrissen und imaginär gekittet, es unterliegt einer inneren Sprachgebung eigener Art, für die Freud viele Begriffe unterschieden hat, die sich entweder stärker auf innere oder äußere Bezüge richten. Innere Triebe, geronnene Selbstbilder wie Ich-Ideale, Gewissen, Schuldgefühle, Ich-Ver­mitt­lungen dieses Subjekts drücken seine innere Stabilität und zugleich Unruhe aus, die in der Lust-Unlustreihe einen Ausgleich des triebbedingten Spannungspotenzials anstrebt, das uns unbewusst ständig drängt und bedrängt. Jegliche Stabilität ist riskant, sie wird zerfallen. Objektbesetzungen in der äußeren Welt begleiten und komplizieren die Dialektik zwischen Subjekt und Objekt, verschmelzen die Grenze zur Realität, weil Realität in den Zirkel der subjektiven Imaginationen, der Zeichen und Symbole eingeschlossen wird und in dieser Gefangenschaft sich der spezifische Fokus eines jeden Subjekts auf seine Wirklichkeit bildet.
Damit wird in die kognitive Aufklärung die affektive Unaufgeklärtheit des Selbst-(Un-)Bewusstseins eingeführt, was jegliche Formulierung bewusster Beobachter­positio­nen seit dieser Einsicht fragwürdig, hinterfragbar werden lässt. Aber diese Fragwürdigkeit oder Frage nach dem Hintergrund ist nicht mehr notwendig die Suche nach einem Urbild, auch wenn Freud hier einiges in die Irre geleitet hat,2 sie ist die Infragestellung schlechthin der ohnehin in Frage gestellten subjektiv-bewussten Interessen des aufgeklärten Subjekts. Es ist der Nachweis eines Begehrens, das sich nicht allein unter Vernunftgründe stellen lässt. Es handelt sich damit um eine Grenzziehung hin zu einer bloß kognitiven Aufklärungsauffassung, die vom Unbewussten her gesehen als partiell herausragt, und die sich immer wieder in ihren übertriebenen Hoffnungen nach kognitiver Ordnung scheitern sehen muss.
Wir sind hier am Anfang eines Verständnisses, weil Freud ein Tor aufgestoßen hat, erste Wege gebahnt hat, die uns Blickrichtungen und Beobachterpositionen eröffneten, die teilweise auch nicht hinreichend begründet verallgemeinert werden konnten. Freud selbst ist in seiner Suche nach Kausalität noch ziemlich darauf fixiert, ein System, das System der Aufschließung der menschlichen Psyche schlechthin zu finden und zu begründen, obwohl er nur einen Zugang in eine uns neue Welt fand. Nach Jahrzehnten psychoanalytischer Forschung sollte man vorsichtiger von Beobachtungsmöglichkeiten sprechen, die aber so weit plausibel und an Erfahrungen, an konkreten Interaktionen und Bedürfnissen der Menschen erprobt, verstanden und gelebt wurden, dass ihnen ebenso Beachtung gebührt wie den vermeintlich sicheren Grundlagen sonstiger Wissenschaftsblicke. Introspektion hat den Ruch der Spekulation, weil es wohl immer noch schwer fällt, uns als imaginative Wesen zu begreifen, deren Beobachterpositionen äußerst heikel sind. Nur im Fixieren einer sehr engen und auf Äußerlichkeiten gerichteten Logik können wir den Sicherheitswahn befriedigen,3 der durch die grundsätzliche Un­sicherheit unseres Lebens und der Erwartung unseres Verschwindens nach dem Tode gesetzt ist. Aber wenn die Entwicklung der Philosophie bis in die Gegen­wart zeigte, dass das Selbstbewusstsein einen langen Weg brauchte, sich selbst im Zusammenwirken mit Anderen, die ebenso Selbstbewusstsein sind, als jene Beobachtermöglichkeit und Möglichkeit damit konstruierter und konstruierender Wirklichkeit zu erkennen, dann kommt Freud und der Psychoanalyse der Ver­dienst zu, diese Position dadurch zu verunsichern, dass er die kognitive, verstandes- und vernunftmäßige Begrenzung solcher Selbstbewusstwerdung kränkt, indem er zeigt, dass wir im eigenen Haus, in unserer Psyche, nicht der absolute Herr sind, der wir so gerne sein wollen. So wie Hegel in der Dialektik von Herr und Knecht nachwies, dass kein Herr sich etablieren kann ohne einen Knecht, wie auch umgekehrt, so erfahren wir seit Freud, dass wir mehr animalische Natur und Spannung in uns tragen, als es der reinen Vernunft wohl lieb gewesen wäre. Dies hat auch die sprachliche Konstruktion von Realität, Imagination, Zeichen und Symbolen verändert und uns neue Unschärfen in unserer Suche nach Wahrheitsannäherung aufgewiesen.
Ich will in acht größeren Schritten dieser Unschärfe exemplarisch nachspüren.
Zunächst soll am Beispiel Freuds, seiner Kränkung unseres Selbst(un)bewusstseins der Konstruktion des Unbewussten und seiner Folgen für die Unschärfe von Beobachtungen (Konstruktionen) näher nachgegangen werden (3.1.).
In einem zweiten Schritt geht es um das Unbewusste, das doch immer bewusst werden muss. Vor allem in Anschluss an Hegel will ich versuchen, Momente der Selbstreflexion im Rahmen des Bewussten und Unbewussten abzugrenzen. Daraus wird sich ein bewusster und konstruktivistischer Blick auf die Breite des Unbewussten ergeben (3.2.).
Am Beispiel des Strukturalismus soll drittens erörtert werden, inwieweit Strukturkonzepte helfen können, das Unbewusste bewusst zu überformen, um Eindeutigkeit und Formalisierbarkeit zu erhalten (3.3.).
In einem vierten Schritt soll mit Piaget die Problematik der spekulativen Methode bei der Bestimmung des Unbewussten problematisiert werden (3.4.).
Der fünfte Schritt wendet sich dann Lacan zu, dessen originelle Erweiterung der Psychoanalyse zu einer Schlüsselstelle meiner Argumentation wird, da Lacan selbst Kategorien für die Arbeit an der Unschärfe bereitstellt (3.5.).
Sechstens will ich dann auf die Rezeption des Unbewussten bei Habermas eingehen, um vor allem den Zusammenhang von Unbewusstem und Sprache (Selbstreflexion) gegen einen kognitiven Reduktionismus zu schützen (3.6.).
Schließlich wird im siebten Schritt die Unschärfe des Unbewussten exemplarisch am Beispiel der Mythen Freuds thematisiert und der konstruktivistische Charakter der Übertragung aufgewiesen (3.7.).
Im Anschluss an diese Abschnitte erfolgt eine zusammenfassende Reflexion (3.8.).

 

Fußnoten

1 Kant: Kritik der reinen Vernunft B 140.

2 Vor allem Freuds phylogenetische Begründung der Überichbildung durch den Urvatermord, die er in „Totem und Tabu“ aufstellt, erwies sich als nicht haltbare Aufstellung einer Urbildsuche und damit als Rückfall in eine Suche nach letzter Kausalität.

3 Eine solche Sicht wird am deutlichsten und ohne die meist üblichen Plattheiten bei Grünbaum (1988) erkennbar, der das Unbewusste über ein sehr eng gefasstes Bewusstes doch wieder auszuschließen versucht. All solchen Kritiken fehlt ein Verständnis für die unscharfe Beobach­terrolle, in die Freud uns notwendig gedrängt hat. Erst wenn wir diese Kränkung verstehen, werden wir wieder schärfer sehen können.

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