Kersten Reich: Die Ordnung der Blicke. Band 1: Kapitel II.1.6

   

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1.6. Realität: Zeichen und Symbol I

Aus der Sicht des Alltags stellt sich vielleicht noch deutlicher als aus der Sicht der wissenschaftlichen Konstruktionen die ganze Macht der Beobachtungsrealität. Jean Piaget hat hierüber eine Psychologie entwickelt, die uns verdeutlicht, wie ein Kind sich jene Konstruktionen kognitiv aneignet und schematisiert, die zivilisatorisch und kulturell angesehen und tradiert werden, wie dabei zugleich aber auch die biologische Aktivität des Menschen gewahrt bleibt und Veränderungen in Auseinandersetzung mit der Natur ermöglicht. Piaget hat dabei wesentliche Bezugspunkte durch die Phasenaufteilung des Erlernens konstruktiver Kompetenz uns als Beobachtungswelt nahe gelegt. Von der Geburt bis zum Spracherwerb erobert das Kind sein Handlungsuniversum, indem es sensomotorisch alles an sich zieht, durch Wahrnehmung und Bewegung sich die Umwelt aneignet, was sowohl eine aktive wie auch passive Seite einschließt. Wenn Sprache und Denken einsetzen, so formuliert Piaget, dann ist das Kind selbst ein Element oder eine Größe geworden, die sich Schritt für Schritt konstruiert hat und nunmehr von sich aus auch als extern beobachten kann. Bereits Hegel hatte, als er die beobachtende Vernunft des Menschen zu bestimmen suchte, in seiner "Phänomenologie des Geistes" für die Beobachtung des Selbstbewusstseins eine Unterscheidung getroffen, die bei Piaget in anderer Gestalt wieder auftaucht. Hegel spricht von der Dialektik der teils empfangenden und teils selbsttätigen Beobachtung der handelnden Tätigkeit des Bewusstseins. Selbst- und Fremdbeobachtung sind hierbei zwei Sichtweisen, die jeder Mensch in seiner Sozialisation erlernt. Beide korrespondieren mit den Fremd- und Selbstzwängen.1 Piaget hat die eigentümliche Balance in diesem Beobachtungsakt wohl aufgespürt: einerseits ist das Kind tätig, indem es die Dinge seiner Umwelt sich einverleibt, indem es die bereits konstruierten Dinge in sein Tun assimiliert; andererseits fügt es im Prozess der Akkommodation mit oft unmerklichen Transformationen den assimilierten Objekten neue Anordnungen bei, die die externen Objekte an-passen. Die Assimilation gliedert dabei die Umwelt in kognitive Strukturen des Kindes ein. Solche Strukturen sind für Piaget ohne das biologische Modell der Anpassung nicht diskutierbar, in ihnen ist immer auch die biologische Grundlage unseres Konstruierens ausgedrückt. Die Akkommodation ist dabei eine Reaktion auf die Umwelt, wobei die kognitiven Strukturen für die Anpassung an die Umwelt genutzt werden oder zu Transformationen, Differenzierungen führen, die in die innere Struktur integriert werden und in operativen Akten sich nach außen – auf besondere Realitätszustände – richten. Beide Prozesse sind letztlich kaum voneinander zu lösen, sie greifen ineinander und wirken in der Äquilibration, dem internen Mechanismus zur Selbststeuerung des Organismus zusammen.
In diesem Zusammenwirken nun ist ein Umstand besonders wesentlich – und er trägt auch zur Erhellung des Konstruktivismus des Kindes besonders bei. Das Kind eignet sich Objekte der Umwelt an. Dabei verfügt es aber zunächst nicht über so abstrakte Begriffe wie Umwelt, Wirklichkeit, Beobachtungsrealität. Es erlebt vielmehr sensomotorisch eine konkrete Wirklichkeit mit konkreten Konstruktionen. Entscheidend für das Kind ist es dabei, in all den Wechseln des Erlebens sich bestimmte Objekte festzuhalten, eine „Objektpermanenz“ zu erreichen. Hier nun stellte sich Piaget wie schon zuvor der Philosophie das Ding-an-sich-Problem. Piaget behauptet nicht eine Abbildung der Außenwelt in das Kind, keine Widerspiegelung oder substanzielle Transformation, sondern sieht die aktive Seite des Subjekts. Hier ist es nicht das Schauen, nicht der Blick allein und auch nicht zuerst die Sprache, sondern die Sensomotorik, die die Welt erobern lässt, in die sich die Sprache dann einmischt. Wo die Erkenntnistheorie auch im 20. Jahrhundert noch das Problem artikuliert, inwieweit subjektive Erfahrung bzw. Konstruktion mit einer bewusstseinsunabhängigen Realität verbunden ist, da bleibt der Genfer Konstruktivismus von Piaget auf einer konkreteren Betrachtungsebene, die zunächst einmal in den Aktionen des Kindes die aktive Selbstkonstruktion von Wirklichkeit betont. Im Gegensatz zu Ernst von Glasersfeld, der darauf insistiert, dass alle realen Strukturen in Form von Unabhängigkeit von diesem Bewusstsein Unsinn seien (vgl. von Glasersfeld 1987, bes. 104 ff.), bleibt Piaget unentschlossener, weil er sich an dieser Stelle nicht grundsätzlich in den philosophischen Streit einmischt. Er spricht noch von dem Gegenstand, den das Kind aufnimmt, ohne immer zugleich dies als Konstruktion zu markieren, weil er die Ambivalenz des Konstruierens selbst spürt: einerseits Konstruktion und andererseits Re-Konstruktion zu sein. Gewiss erobert jedes Kind seine Wirklichkeit, indem es sie konstruiert. Aber dies geschieht in einer gegenständlichen Welt, die bereits Konstruktionsvorräte aufweist. Es sind dies auch nicht alles menschliche Konstruktionen, sondern vieles ist vom Menschen gespiegelte und verarbeitete Realität, Natur, Ordnung. Nicht, dass der Mensch an solcher konstruktiven Verarbeitung unbeteiligt sein könnte, aber ein naiver Solipsismus ist Piaget auch nicht zu eigen, denn er mündet in erkenntnistheoretische Aporien, weil er letztlich zur Weltverleugnung führen muss. Ernst von Glasersfeld zieht die Grenze zu einem solchen Solipsismus, indem er dem Konstruktivismus eine Regel der Anpassung an die Seite stellt (ebd., 112), die aber, wie wir gesehen haben, auch nicht unproblematisch bleibt. Er vergleicht in behavioristischer Manier den Organismus in seinen Input-Output-Regularitäten mit einem schwarzen Kasten, einer „black-box“, wobei der Organismus etwas registriert, was Umwelt oder Welt darstellt, aber für ihn eine „black-box“ ist. Aus dieser Registrierung erwächst seine Re-Aktion, die „pragmatische Viabilität seiner Konstrukte“ (ebd.), seiner Anpassung. Daraus kann das Subjekt keine Ontologie im Sinne einer bewusstseinsunabhängigen Realität ableiten, auch wenn es seine Konstrukte ständig in die Welt nach außen projiziert. Seine Koordination, seine Tätigkeit der Ordnung von Partikeln der Erfahrung nennt es wohl Dinge, Ereignisse, Wirklichkeit oder wie auch immer, aber dies hilft ihm nicht über den Punkt des Solipsismus hinweg. Selbst der konsensuelle Bereich mit anderen Konstrukteuren hilft ihm wenig über die „black-box“ hinaus, denn alles, was ein Subjekt hieraus entnehmen kann, ist nur die Gewissheit, dass es zusammen mit Anderen eine tragfähige Konstruktion gefunden hat (vgl. ebd.).
Problematisch an dieser Ansicht ist, dies sei noch einmal erinnert, dass sie auf der Basis der Subjektabhängigkeit von Konstruktionen deren interaktive Wirkung beim Aufbau von Objektpermanenz, von Schematisierungen des Denkens, von geronnener und historisch verfestigter Symbolisierung so maßlos unterschätzt. Zwar glaube ich nicht, dass radikale Konstruktivisten Voraussetzungen solch subjektiver Konstruktionen dem Grunde nach bestreiten wollen, aber dadurch, dass sie diese nicht zum wesentlichen Thema ihres Blickwinkels machen, erzeugen sie ihrerseits eine größere „black-box“, als es aufgrund der konstruktivistischen Grundüberzeugung nötig wäre. Aus der Sicht des hier vertretenen interaktionistischen Konstruktivismus gewinnen wir eine andere Einstellung.
Zunächst war es mir in der ersten Kränkungsbewegung wichtig, eine Argumentation zu entfalten, die insbesondere an sprachphilosophische Problematisierungen der Erkenntnis anknüpft. Ich entdeckte dabei – in exemplarischer Auswahl – einen impliziten Konstruktivismus, der ein konstruktivistisches Denken vorbereiten hilft, das ich hier vertrete. Solch ein Konstruktivismus problematisiert universalistische Ansprüche, rückt die Verständigungsgemeinschaft, die sich auf Zeit über Ansprüche einigt, in den Vordergrund, sieht das Nach- und Nebeneinander ebenso wie Interessen und Macht in die Ansprüche verwickelt, relativiert damit jedes Zeichen, jedes Wort und alle Aussagen, obwohl er – sprachlich gesehen – zugleich mit ihnen ausschließend operiert.
Zeichen, so argumentierte ich, sind dabei eine Basis der Verständigung, aber sie entbehren eines Ur-Zeichens oder Ur-Sinns. Gerade sprachphilosophische Erkenntnisse zwingen uns, Deutungen, Konsens und Verständigung immer mit in den Blick zu nehmen, wenn wir über Zeichen als Elemente oder absolute Bestandteile unseres Aussagens urteilen wollen. Allein die Wirkungsweise von Zeichen in menschlicher Verständigung verhindert aber auch von vornherein einen Zeichengebrauch, der bloß subjektivistisch sein könnte. Zeichen drängen als Bedeutungen immer auf Leistungen einer Verständigungsgemeinschaft, die wir als kulturelles Vorverständnis, als gruppenbezogene Voreingenommenheit, als Interessen in bestimmten Kontexten usw., rekonstruieren können. Zeichen erscheinen uns nicht einfach, wir bilden sie nicht in uns ab, und sie widerspiegeln auch nicht, was sein muss, sondern sie werden durch unsere Handlungen erzeugt, konstruiert, auch wenn die Konstruktion meist schon durch Andere vorvollzogen ist und uns als Re-Konstruktion erscheint. Zeichen sind aber auch noch recht offen, sie können vielgestaltig und widersprüchlich uns erscheinen; wer an ihnen ansetzt, um die Ordnung der Dinge oder Blicke zu richten, wird schnell ob der Kombinationen und Wandlungen in Sackgassen der Erkenntnis enden. Gerade deshalb gehört es zu den größten Wundererwartungen, dass uns ein „Zeichen“ gegeben werden möge. Auf der Höhe einer konstruktivistischen Argumentation haben wir jegliche Hoffnung auf solche Wunder – seien sie religiöser oder wissenschaftlicher Absicht – verloren.
Symbole, so schlussfolgerte ich, erlösen uns in der Form des symbolischen Denkens und Ordnens aus der Misere eines unendlichen Zeichengebrauchs. In symbolischer Wandlung verdichten und verschieben sich Zeichen hin zu wiederholbaren, von Verständigungsgemeinschaften normativ überprüfbaren und sinnhaft gelebten Deutungen, die für Andere immer Bedeutungen und kulturelle Lerngegenstände sind. Hier erscheint die Ordnung der Zeichen als eine Ordnung von Konsens, Kontext und intentionaler Orientierung. Die vielgestaltigen Möglichkeiten der Zeichen-Auchs verzweigen sich in das sagbar und sichtbar gemachte Eins des Konsenses menschlicher Gruppen, in die bedeutsamen Kontexte und intentionalen Orientierungen, die für bestimmte Beobachterbereiche durch die Art und den Gebrauch definiert werden. So entstehen sehr un­ter­schiedliche symbolische Ordnungen nach- und nebeneinander, die als Kon­struktionen Welten erzeugen und als Rekonstruktionen Welten erhalten sollen. Weder ein Anfang noch ein Ende ist in diesen symbolischen Spielen abzusehen; die Dekonstruktion ist hier eine stete – aber oft nicht zugelassene – Möglichkeit. Die Möglichkeiten der Dekonstruktion hängen – anders betrachtet – von der Demokrati­sierung einer Gesellschaft und einer zugelassenen Pluralisierung als erkenntnismethodologischen Prinzipien ab. Für Konstruktivisten ist Pluralismus ein Kampfbegriff.
Aber ergreifen wir so die Realität, nach der wir anfangs gesucht haben, um in unseren Zeichen und Symbolen die Welt, so wie sie ist, "tatsächlich" auszusagen? Unsere Suche wurde uns gekränkt, denn die Realität als Zauberwort, das eine Identität zwischen Sachen und Dingen "da draußen" und unserem Wissen im Innern ausdrücken soll, verweigert den zauberhaften Zugang, den bis heute Menschen erhoffen. Die Realität ist entzaubert, weil sie sich als ein Konstrukt erweist, das schon den Zeichen und Symbolen unterliegt, bevor wir in unserem Wissen überhaupt eine Chance hatten, sie so rein zu sehen, wie es uns ein naives Denken suggerieren will.
Können wir die Realität nicht doch irgendwie retten? Eine interessante Problema­tisierung, auf die ich bisher nicht eingegangen bin, bietet für dieses Problem Paul Feyerabend. In seinen Studien „Wider den Methodenzwang“2 entwickelt er die These, dass in den wissenschaftlichen Forschungspraktiken, die sich um „objektive“ Maßstäbe der Forschung bemühen, keine allgemeine Regel des Fortschritts ausgemacht werden kann, außer der, die da lautet: „anything goes“. Feyerabend führt zahlreiche Beispiele aus der Wissenschaftsgeschichte an, um zu begründen,  wie die Maßstäbe der Objektivität sich je nach den praktischen Erfordernissen der Wissenschaft veränderten. Er behauptet kein Erkenntnischaos, denn objektive Maßstäbe bleiben stets der Garant auch eines wissenschaftlichen Realismus, d.h. Ausdruck einer Forschungspraxis, die nicht nur mit Theorien jongliert, sondern handlungsbezogen agiert. Er argumentiert recht ähnlich dem Ansatz des methodischen Konstruktivismus, weil und insofern er sich auf ähnliche Gewährsleute stützt. Und dennoch radikalisiert er aus einer historischen Betrachtung der Wissenschaftsgeschichte nun gerade die rekonstruktive Arbeit, der er den letzten Schein einer unvergänglichen Realität nimmt: „Die Idee einer Methode, die feste, unveränderliche und verbindliche Grundsätze für das Betreiben von Wissenschaft enthält und die es uns ermöglicht, den Begriff ‚Wissenschaft‘ mit bescheidenem, konkretem Gehalt zu versehen, stößt auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn ihr die Ergebnisse der historischen Forschung gegenübergestellt werden. Dann zeigt sich nämlich, dass es keine einzige Regel gibt, so einleuchtend und erkenntnistheoretisch wohlverankert sie auch sein mag, die nicht zu irgendeiner Zeit verletzt worden wäre.“ (Feyerabend 1986, 21) Darin nun allerdings setzt er auf einen wissenschaftlichen Realismus, „der die phänomenalen Objekte für wirklich erklärt.“ (Feyerabend in Duerr 1981, 338) Er rettet die Wirklichkeit als eine reale Außenwelt, aber betont diese zugleich als ein Erscheinen in Handlungen, indem er ganz auf die Wissenschaftspraxis abhebt: Schließlich entdecken die Wissenschaften immer wieder, dass die in ihnen auftretenden Gegenstände sich mit realen Handlungen decken, aber gar nicht in der Wirklichkeit auftauchen, sondern erfunden sind. Wissenschaftliches Vorgehen schließt ein, dass wir uns auf existierende Gegenstände, Relationen, Vorgänge usw. beziehen. Die Lösung aller Konstruktionsprobleme erscheint als pragmatisch: Was die Wissenschaften tun, das wird – immer im historischen Rückblick getestet – zugleich Garant für die Bestimmung von Realität. Ein wissenschaftlicher Realist allerdings muss kritisch sein: weder kann er einfach sogenannten Sinnesdaten noch den Versprechen von Wissenschaftstheoretikern vertrauen, die ihm eine Realität für immer sichern wollen.
Aus dieser Perspektive orientiert sich Feyerabend an Vorstellungen der Wissenschafts­praxis, die nun durchaus banale, fehlerhafte, problematische Praxis sein kann. Wer soll dies beurteilen? Wer kann sich je sicher sein, welche der trivialen Erkenntnisapparaturen nicht vielleicht doch einen Fortschritt bedingen, der in der Praxis als Fortschritt empfunden wird – mögen auch andere ihn als wissenschaftliches Desaster ansehen. Eine ähnliche Argumentation – pointiert insbesondere für die Praxis der Paradigmenfindung und -behauptung – finden wir bei Kuhn (1976, 1988). Hier erscheint nochmals der Werteverlust und die Aufgabe der großen Metaerzählungen (vgl. Kapitel I.4). Aber Feyerabend denkt dies noch weiter. In dem Maße, wie wir die wissenschaftlichen Praktiken berücksichtigen, erscheint das Autoritätsproblem in den Wissenschaften. Wissenschaftliche Aussagen sind Aussagen von Macht und Autorität, sie sind in die Fehler eingebunden, die durch Interessen und soziale Kontexte, durch Erfolgsorientierung, wissenschaftliche Hauptströmungen und den Sog damit verbundener Ausschlüsse entstehen. Insoweit wird wissenschaftliche Pluralität zu einem Kampfbegriff, um den Anspruch des wissenschaftlichen Realismus, die Welt zu sehen, wie sie ist, zu retten. Wissenschaftler sollten Menschen sein, die auch die Außenseiterposition einnehmen können, freie, mündige Menschen, die vor allem erkennen, dass die Wissenschaften kein Erkenntnisprivileg auf Wahrheitsbestimmung der Realität haben. Seine These gipfelt darin, der Wissenschaft keinen höheren Rang im Staat zu geben als anderen Traditionen. Dies liegt daran, dass Wissenschaft erstens gar keine Einheit darstellt, so dass ihre Autorität durch das Nach- und Nebeneinander widerstreitender Ansätze ohnehin fraglich ist. Zweitens sind die Werte, auf die Wissenschaft aufgebaut wird, unklar. Drittens gibt es genügend pragmatische Traditionen in Kulturen (z.B. indianische Medizin, ökologischer Anbau), die oft effektiver und billiger zu Ergebnissen gelangen als die Wissenschaft (vgl. ebd., 342). Damit aber ist die eben noch angedachte Rettung auch schon wieder Illusion. Wissenschaft muss auch hier bescheiden werden.
Beunruhigend an den Thesen Feyerabends ist ihr frontaler Angriff gegen die rationalisierten Standards der Wissenschaft (vgl. Duerr 1981). Und sehr populär ist dabei die Waffe, die er forschungsmethodisch und -strategisch einsetzt. Es ist die Wissenschaftspraxis selbst, aus deren unendlichen Geschichten sich jene Verknüpfungen ableiten lassen, die den Anspruch objektiver Realitätssuche stets schon unterlaufen.
Dies kommt einer konstruktivistischen Position oft nah. Auch der Konstruktivismus muss zumindest in technischen und instrumentellen Zusammenhängen zugeben, dass es so etwas wie überdauernde wissenschaftliche Wahrheit als weltweit wirkende Konvention gibt. Zwar stehen solche Konventionen immer vor dem Problem kontinuierlich neu verifiziert werden zu müssen, aber dies geschieht durch technische Normwerke hinlänglich. Gleichwohl kann solche technische Normierung nicht für ein durchgehendes Abbildverständnis von Natur oder eine realistische Begründungstheorie taugen. Wir müssen bedenken, dass auch in technische Normierungen schon kulturelle Ansprüche und Interessen, sprachliche Festlegungen eingegangen sind, und auch die Naturwissenschaften geben zu, dass stets neue Erfindungen und Umwälzungen der eigenen Weltbilder möglich sind.  Aus solcher Sicht benötigen wir die Realität nicht mehr als eine in letzter Instanz universell objektive Realität, die uns die Grenze unserer Erkenntnis immer schon im Voraus festlegt. Es macht auch wenig Sinn, eine externe (= so ist die Welt wirklich) und interne (= so sehen wir sie bisher) wissenschaftlicher Geltung von Aussagen  anzunehmen, denn unsere Welt ist „wirklich“ nur so, wie wir sie sehen (können). Der wissenschaftliche Beobachter nimmt interne Argumentationen auch in seiner Wissenschaftspraxis systemimmanent ein, er verfällt auf externe Perspektiven allein, wenn er diese Immanenz transzendieren will. Realität ist damit stets ein Konstrukt von Beobachtern. Sie mögen dabei auch oft sinnvoll zusätzlich konstruieren, wie nah sie empirisch überhaupt den vorfindlichen (aber eben doch immer auch rekonstruierten) Gegenständen kommen können. Und selbst, wenn alle die konstruierten Ordnungen von Realität scheitern und Ereignisse eintreten, die wir als real bezeichnen wollen, dann zeigt sich dieses Scheitern und das Auftreten des Realen immer noch für den Beobachter in Beobachtungen. Deshalb gelingt es ja auch Wissenschaftlern immer wieder durch Exhaustion bzw. durch die Aufrichtung von Störbedingungen ihre Theorien gegen das Erscheinen des Realen zu immunisieren und den Theorienbestand möglichst lange zu schützen, um die erworbenen Machtpositionen in der Wissenschaft zu erhalten. Wenn wir uns mit der Konstruktion wissenschaftlicher Realität beschäftigen, dann müssen wir also nicht nur auf die beobachtende Konstruktionsarbeit allein schauen, sondern wir haben immer auch den sozialen Kontext der Verständigungsgemeinschaft und die historischen Bedingungen der jeweiligen Praktiken mit zu reflektieren.
Wenn wir den Zusammenhang von Zeichen/Symbolen und Realität beobachten, dann geraten wir leicht in einen Dualismus, der überhaupt für Erkenntnisbemühungen immer wieder sinnbildend zu sein scheint (vgl. z.B. Tyler 1991, 20 ff.). Als grundlegend gilt eine Unterscheidung, die eine sprachliche Welt von einer äußeren Welt trennt: „Das eine, erste, Glied der Dichotomie ist sprachlicher ‚Natur‘ (zum Beispiel Sprache, Beschreibungen, Sätze, Aussagen) und das andere, zweite, Glied ist (angeblich) nichtsprachlicher ‚Natur‘ (zum Beispiel Welt, Realität, Objekte, das, worüber gesprochen wird).“ (Mitterer 1992, 91)
Mitterer nennt diese Dichotomie auch eine dualisierende Redeweise, die er strikt ablehnt. Auch hier haben wir es mit einem Zirkel zu tun: Wir müssen bereits voraussetzen – nämlich die Unterscheidung von Sprache und Realität –, was wir eigentlich erst zu beweisen hätten. Sollte dies aber so sein, dann liegt es verführerisch nah, die dualisierende Redeweise abzulehnen und eine nicht-dualisierende anzustreben. Aber was könnte das dann noch für eine Rede sein?
Zeichen und Symbole lassen sich nicht abschaffen, wenn Verständigung erhalten werden soll. Aber dennoch benötigen wir einen Verzicht auf Referenzbeziehungen (ebd., 42), denn gerade die unterscheidenden Referenzen (z.B. Theorie/Sprache und Wirklichkeit/Welt) sollen ja ihren Sinn verlieren. Nun kann Mitterer andererseits aber auch nicht mehr die Unterscheidungen selbst kritisieren, weil er sich ja dann auf das eingelassen hätte, was er überwinden will. Er sucht also nach einer Argumentationsweise, die solche unterscheidenden Grundprinzipien einfach ignoriert, um durch die Ignoranz zugleich neue Erkenntnisse zu gewinnen, die die Unterscheidungen selbst kritisieren lassen.
Betrachten wir dieses Vorgehen einmal näher, denn es ist für den Konstruktivismus sehr aufschlussreich: Es liegt auch für den Konstruktivismus nah, wie wir gesehen haben, ein naives Verständnis von Unterscheidungen zu verlieren, die wie die Entgegensetzung von Zeichen/Symbolen und Realität suggerieren, dass es doch so etwas wie eindeutige Abbildbarkeit von Welt in Sprache geben könnte. Gerade hier wirkt eine solche Dichotomie negativ, denn sie befördert ein Denken, das immer noch nach der Wirklichkeit sucht – wie z.B. der radikale Konstruktivismus3–, um daraus Wahrheitsbegründungen über diese Wirklichkeit selbst abzuleiten. Dabei ist es für die methodologischen Widersprüche, die dieses dualistische Prinzip erzeugt, so sagt Mitterer, nicht entscheidend, ob die Wirklichkeit oder die Sprache vorrangig gesehen wird. Man mag in solchen Theorien auch durchaus zu einer relativistischen Erkenntnis gelangen, die das eigene Framework im Vergleich mit anderen relativiert, aber innerhalb des eigenen Frameworks bleibt die Begründung der eigenen Wahrheitsfindung möglich, denn einander widersprechende Thesen werden „am gemeinsamen Objektbereich des Frameworks überprüft“ (ebd., 53). Hier erscheint das wieder, was ich in konstruktivistischen Worten als systemimmanente und systemtranszendente Eindeutigkeit charakterisiert habe. Aber mir stellte sich bisher das Problem der dualisierenden Redeweise nicht, weil ich vom Beobachter aus argumentierte. Hier behaupte ich, dass ein jeder Beobachter als Teil von Verständigungsgemeinschaften auftritt, indem er mittels Konstruktionen von Wirklichkeit – und dies sind auf der Zeichen-/Symbolebene immer auch Unterscheidungen! – Sinn, Bedeutungen, Geltung usw. feststellt. Aus einer Perspektive über solche Beobachter mag es nun erscheinen, dass sie dichotomisch vorgehen, und dies lässt sich in der Tat in konkreten Fällen als problematisch kritisieren. Aber wir als Beobachter über solche Beobachter dürfen nie vergessen, dass auch wir nur Beobachter sind. Auch wir führen immer wieder Unterscheidungen ein, die als Unterschiede wirken. Oder sollte uns Mitterer einen Weg weisen können, diesem Dilemma zu entkommen?
In der Vorgehensweise, die er entwickeln will, „bilden Objekt der Beschreibung und Beschreibung des Objekts eine Einheit“ (ebd., 56). Dies soll so erreicht werden, dass die Beschreibung vom Objekt der Beschreibung ausgeht. Dazu benötigt Mitterer einen Beobachter, den er allerdings nicht explizit benennt. Er argumentiert von der Beschreibung her: etwas zu beschreiben heißt dann, eine Beschreibung „so weit“ (so far) mit einer weiteren (from now on) fortzusetzen. Damit scheint ein Dualismus vermieden: wir knüpfen bei Beschreibungen an bestehende Redeweisen an (ohne von Sprache auf Welt zu schließen) und setzen diese bloß fort. Nun scheinen wir allerdings in ein anderes Dilemma zu geraten. Wie sollen wir aus der Zeichen- und Symbolebene hinausgelangen und überhaupt Aussagen über eine Realität treffen? Gibt es zudem keine Beobachter mehr, die auch nicht-sprachlich beobachten?
Mitterer gesteht zu, dass es auch Objekte unabhängig von Beschreibungen gibt. Die Beschreibung ändert solche Objekte, indem sie ein Objekt (sprachlich) bildet, das bei Fortsetzungsbeschreibungen benötigt wird. Dabei kritisiert er den Konstruktivismus als idealistisch, sofern dieser davon ausgeht, dass die Sprache Objekte überhaupt erst konstituiert (ebd., 98 f.). Da er nun sprachlich unabhängige Objekte zugesteht, stellt er eine Ableitung auf: „Zuerst wird das Objekt angegeben, dann kann es beschrieben werden.“ (Ebd., 101) Was aber heißt Angabe? Ist dies nicht stets schon eine Beschreibung? Die Angabe darf keine Beschreibung sein, wenn Mitterer nicht in einen Zirkelschluss geraten will. Die Angabe bedeutet aber, dass das Objekt angegeben wird, „indem die Beschreibung so far an- und vorgegeben wird, die in dieser Beschreibung (from now on) fortgesetzt-entwickelt-verändert werden soll.“ (Ebd., 100)
Hier nun erscheint eine problematische Reduktion, die dadurch entsteht, dass Mitterer keine Beobachtertheorie entwickelt, die ihn aus seinen bloß durch Temporalität scheinbar gelösten Verstrickungen befreit. Weil nämlich die Beschreibung angegeben wird, erhalten Beobachter bereits etwas Unterschiedenes, sofern wir es mit Beobachtern in einer Verständigungsgemeinschaft zu tun haben. Diese unterscheiden in ihrer Funktion als Beobachter schon genuin, indem sie nach- und nebeneinander beobachten und darüber Unterscheidungen als Konventionen finden (das ist die Aufgabe sprachlicher Normierungen). Der Unterschied liegt also bereits im Beobachten, bevor es in irgendeiner Spezifikation weitere Unterscheidungen annimmt. Mitterer hingegen verbleibt ausschließlich in der symbolischen Ebene der Angabe und Beschreibung, die er aus der Sicht der Beobachter nicht in eine Ableitung bringt. Jeder Beobachter ist als Konstrukteur frei, seine Ableitungen zu treffen. Er ist unfrei, sofern die Verständigungsgemeinschaft hier Vorsorge getroffen hat. Aber eine Angabe aus der Sicht des Objektes, die dann weitere Beschreibungen bei Beobachtern generiert, ist ebenso problematisch, wie die zu Recht von Mitterer kritisierte Apriori-Setzung von Objekten, die eine Wirklichkeit abbilden soll.
Folgende Aussagen Mitterers erscheinen vor diesem Hintergrund als starke Vereinfachungen: „Erst durch ein ‚sprachverschieden‘ vorausgesetztes Objekt kann Adäquatheit-Wahrheit als Übereinstimmung (mit etwas grundsätzlich Verschiedenem) bestimmt und damit erstrebenswert werden.“ (Ebd., 104) Gleichzeitig soll  das Streben nach Wahrheit aufgegeben werden. „Die Wahrheitstheorien sind eine erkenntnistheoretische Verschleierung des Faustrechts.“ (Ebd., 110) Was bleibt, das ist „die Wirklichkeit“, die als letzter Stand der Dinge – so far – Anlass weiterer Beschreibungen wird (ebd.).
Ich bestreite als Beobachter (und dabei Re/De/Konstrukteur) von Wirklichkeiten nicht, dass es Objekte gibt, aber ich bestreite, dass sie beobachterunabhängig vorausgesetzt werden können, um Übereinstimmung zu erzielen. Solche Übereinstimmung wird immer systemimmanent erworben und systemtranszendent verteidigt – und hier spielen Dualismen stets eine bevorrechtigte und sinnvolle (oft auch vereinfachende) Rolle, die nur im Wechselspiel der Beobachter, in Interessen- und Machtkämpfen ein- oder aufgelöst wird. Erst durch eine Verständigungsgemeinschaft erscheinen Objekte im Horizont von Übereinstimmung. Dabei ist Wahrheit nach wie vor ein Geltungsanspruch, dessen Relativierung ja nun gerade nicht verhindert, dass auch Mitterer wie ein (verschleierter) Vertreter des Faustrechts erscheint, das er generell abschaffen möchte. Aber wie soll dies geschehen? Erneut durch Rekurs auf die Realität? Dann geraten wir in die alten Fallen der Abbildtheorie. Durch Rekurs auf irgendeine Angabe von Objekten, die schließlich doch unterscheidend von irgend jemandem vorgegeben wird? Dann geraten wir in die Unterschiede und Dualismen, die Mitterer eigentlich aufheben wollte. Durch die Ineinssetzung von Sache und Welt im Beobachter? Dann geraten wir zu einer sich selbst erschaffenden rein subjektiven Welt, die weder die Vorgängigkeit von Verständigungsgemeinschaften noch Sprache adäquat erfassen kann.4
Wenn wir uns mit dem Wechselverhältnis von Zeichen, Symbolen und Realitätskonstrukten beschäftigen, dann ist der Dualismus oft ohnehin nur ein An-Schein von Zirkularität. Dies liegt am symbolischen Ordnen und den begrenzenden Redeweisen von Verständigungsgemeinschaften, die sich nur schwierig zirkulär definieren können, wenn sie Eindeutigkeit anstreben. Solche Eindeutigkeit ist immer Ausschließung und mithin beschwört sie jene Dualismen, die bei einer Dynamisierung der Sichtweisen als zu statisch erscheinen. Ausschließung bedeutet im Nach- und Nebeneinander von Verständigungsgemeinschaften zwar eine systemimmanente Strategie, Ordnung und Wahrheit überhaupt noch – selbst in ihren nachmetaphysischen Formen – aufrecht zu erhalten. Aber in ihr wohnt kein übergreifendes und transzendierendes Kriterium mehr, das Verständigung begrenzen könnte. Aus der transzendierenden Sicht erscheint eine Nomadologie, eine Deterritorialisierung, die ins Mannigfaltige, ins Singuläre, in die Dekonstruktion und Auflösung zurückfällt, um sich als ontologisierende Anarchie (so bei Deleuze/Guattari  1992) zu behaupten, die sie aber ontologisch schon nicht mehr sein kann. Der Beobachter jedoch hat nicht nur individuell, sondern auch als Mitglied von Verständigungsgemeinschaften begrenzte Möglichkeiten. Er mag erkennen, was alles möglich sein könnte, aber er wird in der Pragmatik seiner Lebensformen nicht nach allen Möglichkeiten handeln können. Das Unendliche, das Mannigfaltige, das Singuläre erscheinen in den Konstrukten seiner Realität als Ankunft eines Realen, das symbolisch bearbeitet und verzehrt wird, das imaginär dem eigenen Begehren und Vorstellen einverleibt wird, so dass es bloß mögliche Begrenzung bleibt, die die Notwendigkeit von Ausschließungen und die Maschinerie der Eindeutigkeitssuche stimuliert.
Vor diesem Hintergrund und nach Durchgang der ersten Kränkungsbewegung will ich einige konstruktivistische Zwischenbemerkungen zum Zusammenhang von Zeichen, Symbolen und Realitätskonstruktionen vornehmen.
Beobachten ist eine Grundeigenschaft des Menschen. Grundlegend tritt es in seiner Körperlichkeit auf – es ist nicht zufällig, dass für Piaget alle Intelligenz auf der Sensomotorik aufbaut –, es erscheint nicht nur in eigenen Aktionen, die sich durch Mimik, Gestik, Bewegung ausdrücken, sondern setzt zugleich immer ein Bild der anderen Menschen voraus, deren Mimik, Gestik und Bewegungen geschaut und hierin gedeutet werden. Kinder lernen sehr früh bedeutsame Zeichen von zufälligen Bewegungen zu unterscheiden. Wir finden hier Gründe dafür, weshalb menschliche Gemeinschaften diese Körpersprache in ein kohärentes Bild, in einen bestimmten Rhythmus zu bringen versuchen, um sich ihrer Gemeinsamkeiten unausgesprochen sicher sein zu können. Rituale, die sensomotorische und affektiv hoch besetzte Ereignisse sind, gehören zur Ausformung einer solchen Kohärenz, die sich über die Zeitalter zwar wandelte, aber bis heute erhalten geblieben ist. Denken wir nur an die Rolle von Rhythmik, Musik, Tanz- und Bewegungsformen in den jeweiligen Kulturen. In der Moderne allerdings spaltet sich die soziale Kohärenz aller Gruppenmitglieder in Systeme unterschiedlicher Gruppenkohärenzen auf. Die Massenmedien der Moderne ermöglichen zudem gegenüber der aktiven Teilnahme eher passive Formen ritualisierten Genusses.
Wissenschaftliches Beobachten schließt sich mit guten Gründen aus solcher Körperlichkeit aus, um seine reduzierten Intentionen eindeutiger durchzusetzen und darin klare Lösungen zu finden. Insoweit waren meine Reflexionen über den Gang sprachphilosophischer Argumente ein kurzer und hier gewiss nur einführender Eindruck von einer Ausschließlichkeit, die die Mimik, Gestik und Bewegungen der anderen Subjekte vernachlässigt, um zu einer von Subjektivität gereinigten Sicht zu kommen. Auch für diese Sicht bleibt das Problem eines Wahrnehmens in der Realität. Aber zugleich erscheinen nun die Zeichen, die sich im Bewusstsein in einer eigenen Realität der Imagination, der Vorstellungen und der Vorstellungskräfte, bewegen und die in einer kognitiven Konzentration auf solche Bewegungen Denken genannt werden. Bereits die Hervorhebung des Kognitiven gegenüber dem Affektiven und Sensomotorischen ist eine Ausschließung, die nur durch Rück- und Gegenbewegung in diesem Denken selbst relativiert werden kann. Dies fällt auch geschulten Denkern gewöhnlich sehr schwer.5Wahrnehmen erscheint vielen Beobachtern als etwas Unmittelbares. Kant unterscheidet die Rezeptivität der Sinne und die Spontaneität des Denkens. Damit ist ein wesentlicher Unterschied markiert, der darin wurzelt, dass alles, was wahrgenommen wird, für ein Denken in Frage steht. Die Wahrnehmungen fragen in uns an. Hier erscheint die Möglichkeit einer Freiheit des Denkens gegenüber dem Wahrgenommenen. Dabei ist das Bild der Rezeptivität selbst täuschend, denn es unterstellt, dass wir gleichsam einen Input erfahren, den wir dann überprüfen. Es gelangt aber nichts in uns im dinglichen Sinne hinein, sondern wir agieren unsere eigenen Sinne aktiv an dem Äußeren, wir sind selbst in dieser Aktion schon bestimmend. Das heißt nun aber nicht, dass wir das Medium, in dem wir existieren, unsere Umwelt, negieren könnten. Aber sie prägt sich nicht ein, sondern lässt uns alle Möglichkeiten aktiver Teilnahme. Ja, nur durch eine gewisse Spontaneität unseres Wahrnehmens werden wir überhaupt genügend in sie eindringen und sie fraglich im Zirkel der Aktionen werden lassen. Insoweit täuscht Kants Bild so etwas wie einen kontemplativen Beobachter vor, den wir nur mit großer Distanz von den zirkulären Beobachtungsinteraktionen uns konstruieren können.
So ist es schwierig, das Wahrnehmen aus der Sicht der Wissenschaft, die bereits ausschließt, nicht reduktiv zu erfassen. Wir haben für Piaget gesehen, dass er nur bestimmte Wahrnehmungen für sich notiert, um hieraus etwas über die Intelligenz kindlicher Entwicklung abzuleiten. Andere konstruieren Kindheit eher nach affektiven Mustern. Wahrnehmen bedeutet damit also einen aktiven Eingriff, eine ausschließende Beobachtung von dem, was für Beobachter wichtig ist. Denn Beobachtungen können sich unerschöpflicher Beobachtungsvorräte bedienen und ihre Modi ständig wechseln. Trotz dieses beobachtenden Spielraums gelten nicht alle Beobachtungen und Modi der Beobachtung als sinnvoll. Dazu möchte ich wichtige Perspektiven für eine Beobachtertheorie zusammenfassen:6

  • Bei Hegel können wir etwas Grundsätzliches über Begriffe lernen. In seiner „Phänomenologie des Geistes“ wie auch in seiner „Logik“ entwickelt er bestimmte Grundbegriffe, die nicht als eindeutiges System nacheinander abgeleitet werden können. So geht die sinnliche Gewissheit über in die Wahrnehmung, deren Voraussetzungen sie schon enthält; die Wahrnehmung in ihrer Spaltung von Eins und Auch schließt wesentliche Momente des Verstandes auf, der wiederum in Aspekte der Vernunft zerfällt. Hier kann ich im Zeichenprozess selbst hin und her gehen, weil ich in einem Zirkel von Bedeutsamkeit und damit auch von unterschiedlichsten Beobachtungspositionen stehe, der mich gefangen hält. So bleibt jede Stufe an und für sich bedeutsam, aber schon die Spannung ihres „an sich“ gegen ihr „für sich“, die Spannung zwischen Konstruktion meiner Wahrnehmung und Rekon­struktion der Urteile Anderer, relativiert dieses Absolutum, dessen Bezeichnung ich dennoch benötige, um Bedeutungen mit Anderen austauschen zu können.7 Ich hätte ohne solche Begriffe, die mit anderen Begriffene sind, gar keine Möglichkeit der Verständigung. Gleichwohl können die Bedeutsamkeiten von solchen Begriffen sich in meiner Zeit – meiner eigenen und der meiner Kultur – wandeln, verändern, zerstören. So greift immer die Zeit und die je spezifische soziale Form des Beobachtens prozedural in das Beobachten selbst ein. Erst daraus formt sich ein der Beobachtung entgegengesetzt Gedachtes, das wir Realität nennen.
  • Realität ist außerhalb eines beobachtenden Zirkels von Zeichen und Symbolen hin zu Wahrnehmungen und Wahrnehmungsunterscheidungen nicht konstruierbar. Dieser Zirkel führt in bestimmte Ausschließungen, denn Wahrnehmung wird nur als Unterscheidung bewusst und beobachtbar. Es ist weder ein Ende der Beobachtungsvorräte noch eine Eindeutigkeit der Beobachtungsmodi ableitbar.8 Es wäre allerdings kognitiver Reduktionismus, wenn ich behaupten würde, dass nun Unterscheidungen immer Beobachtungen vorausgehen müssen.9 Unterscheidungen und Beobachtungen produzieren sich zirkulär, d.h. es kann aus sinnlicher Wahrnehmung im Beobachten eine Unterscheidung erfahrbar und formulierbar werden, wie umgekehrt eine formulierte Aussage eine Beobachtung leiten mag. Auch wenn es angesichts der gewaltigen Beobachtungsvorräte und vorausgesetzter Modi des Beobachtens, die bis hin zum Klischee vorgängig alles Wahrnehmen zu strukturieren versuchen, zu einem enormen Druck in Richtung auf Vereinheitlichung sogenannter moderner Beobachtung kommt, so scheint mir trotz dieses Angriffes auf die Kreativität und Spontaneität des Subjekts damit seine grundsätzliche zirkuläre Möglichkeit neuer Beobachtungen und eigener Modi nicht vollständig beseitigt zu sein. Wird dieses Spannungsverhältnis, das weder Anfang noch Ende von Beobachtungen und Unterscheidungen nach letzten Gründen anzugeben vermag, gesprengt und in die Seite der Bevorzugung einer Welt durch Unterscheidung oder Beobachtung gepresst, dann landet man im ersten Fall der Bevorzugung der Unterscheidung vor der Beobachtung in der Paradoxie einer Gewissheit rationaler Unterscheidungen nach einem logischen Typus und in einer subjektentleerten Welt – also in den Fehlern Luhmanns –, oder im zweiten Fall in einem Empirismus, der letztlich naiv aus Verhalten eine Welterklärung ableiten will. Man landet so in Ausschließungsgründen, die die Spannung zugunsten eines sicheren Weges reduzieren, um Unschärfe zu beseitigen, ohne deren Ursachen tatsächlich bekämpfen zu können.
  • Die Ausschließungsgründe oder die Notwendigkeiten des Denkens sind von Beobachtern selbst konstruiert. Sie sind mithin niemals absolut, sondern veränderlich. Es gibt keine abgeschlossenen Wahrnehmungsvorräte und auch keine geschlossenen Fragekonzepte des Denkens, die jenseits der Zeit und des sozialen Raums definitive Antworten finden. Es gibt aber wohl das Absolutum einzelner Begriffe oder gar von Aussagen und ganzen Weltbildern, die vermeintlich von allen gleich verstanden werden können. Aber dies Absolutum ist durch die Formen der Beziehung (Kommunikation) der Menschen, durch den Fluss (Prozess) hierin relativiert und veränderbar. Es ist immer eine Gefangenschaft in einer Geltung auf Zeit.
  • Es gibt nicht einmal definitive Antworten in einer bestimmten Zeit und einem bestimmten sozialen Raum, weil das Wahrnehmen und das Denken aller Individuen immer mehr ist als das Gedachte, das sich in Zeichen formt und als reproduzierte Realität Gedächtnis ausbilden soll. So wie jeder Mensch individuell vergisst, um das Zufällige und Überflüssige sich auszuschließen, so vergisst eine Kultur immer einen großen Teil von sich selbst. Aber weil wir verschiedene Beobachter in einer Kultur haben, deren Erinnerungen wir wiederum beobachten können, mag uns dieser Umstand selbst immerhin bewusst werden, auch wenn wir ihn nicht beseitigen können. Auf eindeutige Wahrheit drängende Weltbilder oder Wissenschaften versuchen, uns diesen Umstand überhaupt vergessen zu lassen und uns über das damit Verdrängte durch angebliche Wahrheit zu trösten. So gibt es einen großen Hang zu systemimmanenten Re-Konstruktionen, um die Macht und Position wissenschaftlicher Teildiskurse abzusichern. Es gehört zu den größten Schwierigkeiten, diese Absicherungsarbeit hinterfragbar zu halten. Je mehr wissenschaftliche Karrieren in solche Kontexte eingebunden sind, desto stärker drohen die wissenschaftlichen Teildiskurse in ihrem jeweiligen Status zu verharren.
  • Weltbilder formen sich so, um doch definitive Antworten zu finden und zumindest in ihrer Zeit die gültigen Fragen und Antworten abzustecken. Ihnen ist immer wesentlich, dass sie bereits dem Beobachter die Fragen, die durch seine Wahrnehmung entstehen, regulieren, so dass er nicht etwa dort sucht, wo es zu Missverständnissen kommen könnte. So sind Fragen und Antworten in Weltbildern zirkulär eingespannt. Deshalb sind es Gefangenschaften, die – wie Foucault schlussfolgert – immer auch einen Machtaspekt tragen.
  • Mit der gesellschaftlichen Arbeitsteilung teilen sich auch die Beobachter, die ihren Kontext von Fragen der Wahrnehmung und Antworten jeweils mit eigenen Zeichenvorräten füllen, symbolisch besprechen und lösen. Sie werden untereinander unverständlich, gegensätzlich, widersprüchlich. Es gehörte zu den Illusionen des Projekts der Moderne, sich hier als Einheit entwerfen zu wollen. In der heutigen Zeit ist diese Einheit mehr und mehr in ihre Widersprüchlichkeit zurückgefallen, die von einem Ende der großen Entwürfe kündet und als Unübersichtlichkeit sich auch in ihren Interessen gegensätzlich geworden ist. Dies gilt nicht mehr nur für gegensätzliche Beobachter, sondern für jeden einzelnen Beobachter selbst. Von ihm erwarten wir, dass er im Laufe seines Lebens mehrfach seine Positionen, seine Blickrichtungen, seine Fragen und Antworten ändert. Hier erscheint in der re-konstruktiven Tätigkeit des Menschen, mit der er sich in seinen Verständigungsgemeinschaften situiert (sozialisiert) und erfindet (sozial verändert), auch die insbesondere von Derrida hervorgehobene Dekonstruktion, die als Wechsel des Blicks in die Unübersichtlichkeit einer Unabgeschlossenheit stets als Möglichkeit lockt oder als Gefährlichkeit ängstigt.
  • So geschieht die Flucht in klare Fragen und Antworten nur noch in bestimmten Verständigungsgemeinschaften, die sich möglichst eindeutig verstehen.10 Je eindeutiger sie dies in ihrem Zirkel tun, desto mehr schließen sie sich gegenüber der übrigen Welt ab und werden unverständlich. In diesem Aufstieg über Andere erscheint also schon ihr möglicher Niedergang. So ist es für die wissenschaftliche Entwicklung typisch geworden, dass sie weniger der Tradition als vielmehr der Ignoranz huldigen muss, um sich vorwärts bewegen zu können. Aus dem Schutt der Vergangenheit, aus allen möglichen Fragen und Antworten lässt sich kein kohärentes Gebäude schmieden. Es ist oft nur Verlegenheit, sich mit dem Alten noch einmal auseinanderzusetzen, um die eigene Position zu situieren. So sinnvoll dies ist, so auffällig ist es auch, dass selbst in den Wissenschaften immer mehr Menschen ohne solche Vergewisserung auskommen. Sie trösten sich dann, dass sich alle paar Jahre das Wissen verdoppeln soll, und nur der je höher Gebildete weiß, was alles bloß wiederentdeckt und mit neuen Zeichen bezeichnet wurde, aber dem Muster des Denkens nach doch bloß gleich oder ähnlich geblieben ist.
  • Verständigungsgemeinschaften ihrerseits konstruieren „feine Unterschiede“ (Bourdieu 1987), die sich im akademischen Bereich als Ausschließungsorganisationen bewähren (Bourdieu 1992). Macht erscheint als ein Moment von Praxis, von Praktiken, die nicht als klar umgrenzte Gebilde eindeutig bekämpft werden können, sondern deren Zirkulation selbst zur Unschärfe sozialer Gebilde gehört. Bei allem Eindeutigkeitsstreben von Wissenschaft werden alle diese Momente immer durch den Rahmen solcher Unschärfe mit bestimmt. Habe ich eine systemimmanente Eindeutigkeit erreicht, so werde ich von systemtranszendenten Eindeutigkeiten stets wieder überrascht werden. Daraus entsteht die notwendige Frage in der Moderne, inwieweit dieser Rahmen selbst mit zur hinreichenden Aufklärungsabsicht von Wissenschaft über sich selbst gerechnet werden muss. Eine Beobachtertheorie, die diese selbstkritische Perspektive übergeht, wird schnell auf den Boden sozial angepasster Disziplinarmächte zurückgestellt.
  • Die Individualität des Beobachters unterliegt der Allgemeinheit der Zeichen, wenn er sich auf den sprachlichen Diskurs einlässt. Jedes Individuum kann sich hier anders verstehen oder auch anders verstanden werden, als es sich selbst versteht, aber dieses Verstehen selbst unterliegt einer Gemeinsamkeit, die sich beobachtend immer nur durch Zeichen vermittelt herstellen lässt. Solche Zeichen, die sich in Symbole verdichten, entindividualisieren den Beobachter zugleich, indem sie jeder Selbstbeobachtung eine Fremdbeobachtung an die Seite stellen. So ist in dieser Voraussetzung das Selbst gespalten, das als Ich mit sich verkehrt und diesen Verkehr vermitteln muss. Daraus entstehen dem Selbstbeobachter zwei Probleme, die ich in den folgenden Kränkungsbewegungen untersuchen will:

(1) Inwieweit bin ich überhaupt ich selbst? Wenn ich den Anderen als Teil einer Be­obachtung in mir sehe und mich auf ihn hin beobachte, zugleich aber auch den Anderen beobachte und ihn verfahren sehe, wie er zwischen selbst und fremd vermittelt, wir beide aber, wenn wir uns in diesen Beobachtungen verstehen und verständigen wollen, jene Zeichen benötigen, die nicht wir sind und die uns doch in unserem Verstehen oder Nicht-Verstehen ausmachen, dann muss ich offensichtlich in meinen Beobachtungen selbst mich immer mit Anderen vermitteln. Was aber bin ich dann selbst? Dieser Gesichtspunkt war der relativierenden Einschränkung von Wahrheit der Zeichen, der Symbole oder Realitäten bereits inhärent. Wird er systematisch in wechselseitiger Perspektive entwickelt, dann ist hier eine Radikalisierung zu erwarten, die in einer allgemeinen Dekonstruktion isolierter kognitiver und auf Autonomie des Subjekts rationalisierend aufbauender und konstruierter Entwürfe endet.

(2) Verstehe ich mich selbst? Bin ich in meinen Beobachtungen meiner selbst mir überhaupt hinreichend und nicht bloß zufällig bewusst oder vollziehe ich unbewusst Beobachtungen an mir, deren Folgen mir erst aus einem Wechsel meines Beobachtungsstandpunktes selbst klar werden können? Oder anders gefragt: Löst mir denn die kognitive Aufklärung über meine Vernunft oder die eines Anderen überhaupt die Rätsel meines Daseins und meiner inneren Existenz? Sollte dies nicht sein, dann radikalisiert sich die bisher schon relativierte Wahrheit einer interaktiven Kognition durch eine weitere Unschärfe, die nach dem Begehren fragt, das das Subjekt in seinen Vermittlungen mit Anderen antreibt, etwas bewusst zu tun, obwohl es die unbewussten Gründe dafür nicht weiß.

 

Fußnoten

1 Dies wurde bereits näher in Kapitel I. ausgeführt.

2 Vgl. dazu Feyerabend (1986; ferner erweiternd 1978, 1981).

3 Zur Kritik am radikalen Konstruktivismus vgl. deshalb auch Mitterer (1992, 115 ff.).

4 Eine andere Form einer nicht-dualistischen Haltung und Begründung wählt John Dewey, der über seine Handlungstheorie versucht, einem denken in bloßen Gegensätzen zu entfliehen. Dabei zeigen für ihn andererseits die Handlungen der Menschen, dass Dualismen in der Praxis immer wieder bevorrechtigt benutzt und entwickelt werden, meist um Ordnung und Übersicht im Leben zu schaffen.

5 Die Verkürzung des kommunikativen Handelns auf kognitive Zusammenhänge wird in den nächsten Kränkungsbewegungen immer wieder als Kritikpunkt auftauchen.

6 Allerdings sollen in dieser Zusammenfassung nicht mehr alle relevanten Einzelaussagen der vorhergehenden Abschnitte wiederholt werden.

7 Simon betont, dass Hegel in seiner Logik begreift, dass eine Erkenntnis rein aus Begriffen in Begriffen nicht im absoluten Sinne möglich ist, weil die Verdeutlichung von Begriffen in anderen Begriffen immer ein Produkt unseres „Fürwahrhaltens“ ist. Wo Kant die vorhergehende Philosophie, die rein aus Begriffen gedacht wurde, noch in Begriffen kritisiert, da wird für Hegel der Übergang hin zu einer Bedeutsamkeit erkennbar, die sich zwar noch ein absolutes Wissen retten will, aber dies schon am Aufschluss des Bedeutsamen im Spannungsfeld der Differenzen zwischen  Personen zu denken hat. Vgl. dazu Simon (1989, 64 ff.).

8 Dies bedeutet nicht, dass wir uns über die physiologischen Merkmale des Beobachtens - eine Analyse unserer Sinne usw. - nicht zunehmend klarer werden können. Aber diese Klarheit bleibt gegenüber der je spezifischen Beobachtungsmöglichkeit bloß formal. Sie stellt nur Rahmenbedingungen dar, ohne die Inhalte selbst erfassen zu können. Naturwissenschaftliche Forschungen erbrachten gerade hier die Einsicht, dass menschliches Wahrnehmen von enormer Plastizität geprägt ist, weil es einem Wandel des Beobachtungsraumes und seiner »Inhalte« gegenüber offen ist.

9 Vgl. dazu meine Auseinandersetzung mit Luhmann in Kapitel II.2.5.

10„Der Vorrang der Formen vor den Inhalten, ja schon die Trennung beider in der europäischen Philosophie drückt den Vorrang des Interesses aus, sich im Selben zu verstehen, gegenüber dem Interesse, anderes Verstehen zu verstehen.“ (Simon 1989, 107)

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