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1.2 Ereignis und Handlung
John Dewey hat in besonderer Weise dazu beigetragen, eine handlungsorientierte Wende in der Philosophie und Kulturtheorie herbeizuführen. Diese Wende ist zugleich eine paradigmatische Voraussetzung für einen kulturalistisch orientierten Konstruktivismus geworden. Dewey selbst stand zunächst unter dem Einfluss von Hegel, vollzog aber dann eine wesentliche Kritik. Was waren seine Ausgangspunkte? In der frühen Schrift „The Metaphysical Assumptions of Materialism“ wehrt Dewey zunächst die Widerspiegelungstheorie des Materialismus als erkenntniskritischen Zugang ebenso ab wie andere metaphysische Konzeptionen der Erkenntnis: „If there be no knowledge of substance as such, there is either only knowledge of phenomena produced by the activity of the Ego (pure subjective idealism), or of phenomena entirely unrelated to any substance whatever (Humian scepticism), or of those related only to objective spirit (Berkeleian idealism), or of those related to an unknown and unknowable substance (H. Spencer), or of those brought into unity by the forms of knowledge which the mind necessarily imposes on all phenomena given in consciousness (as Kant).“ (EW1:4-5) Dewey war in seinem frühen Werk noch durchaus fasziniert vom Dualismus der Erkenntnistheorien, der eine äußere und innere Welt miteinander verbinden mussten. Aber angeregt insbesondere durch William James ging Dewey schließlich den Weg einer nicht-dualistischen Lösung zur Begründung der Erkenntnistheorie. Hierbei erschien ihm die Handlung als der zentrale Zugang zur Lösung erkenntniskritischer Schwierigkeiten und zur Aufgabe des Dualismus. Ähnlich wie sehr viel später der Methodische Konstruktivismus von Kamlah/Lorenzen, der die menschlichen Handlungen im Kontext eines Widerfahrniswissens situierte, sieht auch Dewey jede Handlung als eine Aktion der Widerfahrnis: „Every vital activity of any depth and range inevitably meets obstacles in the course of its effort to realize itself“ (MW6:230). Menschliches Handeln entsteht dort, wo wir in unserer Existenz auf Schwierigkeiten stoßen, wo Probleme und Schwierigkeiten vorhanden sind, die uns motivieren, nach Lösungen zu suchen oder Lösungen suchen zu müssen. So konstruieren wir aus Ereignissen in unserer Existenz etwas Wesentliches, eine Essenz, heraus, die wir jedoch nicht mit der Existenz selbst verwechseln dürfen. Es ist unsere eigene, stets begrenzte Sichtweise, die wir im Ringen mit den Widerfahrnissen herstellen, die uns als wesentlich und entscheidend erscheinen, obgleich sich dies dann im Wechsel der Zeitalter und Kulturen verändert. Deshalb müssen wir den Handlungen mehr Aufmerksamkeit widmen, denn von ihnen hängt es entscheidend ab, was und wie wir unsere Welt konstruieren.
Dewey hat sich sehr umfassend in seinem Werk mit verschiedenen Handlungsarten beschäftigt und für diese sowohl philosophische als auch psychologische und soziale Interpretationen geliefert. Im Kern seiner eigenen Erkenntniskritik steht, wie z.B. Boisvert (1998, 149 ff.) hervorhebt, das Erstellen von Landkarten, das „mapping“, um Erkenntnisvorgänge zu bezeichnen. Als Metapher spricht Dewey schon im frühen Werk von solchen „Maps“: „The voyage of discovery is summed up in the map which shows the limit, external and internal, of the activity.“ (EW4:338) Im Blick auf Rousseau und das Lernen sagt er, dass wir oft denken, wir würden den Lernern die Welt erklären, wie sie ist, bringen ihnen jedoch tatsächlich nur die Landkarten bei (vgl. MW8:218-219). Oft denken wir, dass die Welt verändert wird, bemerken aber nicht, dass es nur unsere konstruierten Landkarten sind, die sich geändert haben (vgl. LW1:125).
Die Dinge, so folgert Dewey, sind uns nie von außen bloß gegeben, sondern in unseren Handlungen erzeugt. Die Daten liegen nicht einfach vor, um abgebildet zu werden, sondern sie werden ausgewählt, sie sind durch Selektion („selectivity“) und Auswahl („choice“) in unseren Handlungen bestimmt. Insoweit findet ein „mapping“ statt – oder, wie wir heute klarer sagen – eine Konstruktion von Wirklichkeiten, die wir als Karten mit den äußeren Territorien oder gewinnbaren Daten abgleichen. Diese Konstruktionen, auch da ist Dewey schon sehr aktuell, sind immer provisorisch, zeitgebunden, damit grundsätzlich in jeder Zeit offen für Veränderungen, Verbesserungen, Verwerfungen.
Wahrheitsbegründungen sind für alle Wissenschaften wesentlich. Auch der Pragmatismus entwickelt (so wie der Konstruktivismus) eine Wahrheitstheorie. Aber Wahrheit muss in einer handlungstheoretischen Begründung frei von Elementen einer Abbildtheorie oder Ansprüchen einer idealisierten Erkenntnis ohne die Prozedur der handelnden Begründung gehalten werden. Deshalb spricht Dewey von gerechtfertigter Behauptbarkeit, die für Wahrheiten steht: „… the term ‘warranted assertion’ is prefered to the terms belief and knowledge. It is free from the ambiguity of these latter terms, and it involves reference to inquiry as that which warrants assertion“ (LW12:17). Solche Rechtfertigungen von Behauptungen sind an Untersuchungen und Experimente geknüpft („inquiry“). Aber über die Formen des inquiry und die Reichweite der Begründungen gibt es zentrale Differenzen nicht nur in den einzelnen Wissenschaften, sondern auch in der Erkenntnistheorie. Dewey zitiert Peirce, um seine eigene Position zu verdeutlichen: „C. S. Peirce, after noting that our scientific propositions are subject to being brought in doubt by the results of further inquiries, adds, ‘We ought to construct our theories so as to provide for such [later] discoveries . . . by leaving room for the modifications that cannot be foreseen but which are pretty sure to prove needful.’ (Collected Papers, Vol. V., par. 376 n.)“ (LW12:17; footnote 1) Damit ist ausgedrückt, das Wahrheitsbegründungen bereits im Pragmatismus in Verbindung mit der Konstruktion von Wirklichkeiten gesehen werden.1
Je nachdem wie streng oder wie weich wir diese einzelnen Behauptungen allerdings als gerechtfertigt sehen, kommen wir zu unterschiedlichen Interpretationen. Viele der harten Werkzeuge und Methoden der wissenschaftlichen Forschung erscheinen dann als schwach und nicht hinreichend, wenn wir die versteckten Risiken erkennen, die im Prozess der Forschung selbst verdeckt bleiben. Heute sehen wir stärker als zu Deweys Zeiten, dass eine umfassende wissenschaftliche Kritik immer notwendiger wird, wenn es nicht nur um die engeren Ziele und Werte der Forschung geht, sondern wenn auch die Bedingungen und Wirkungen solcher Forschung in ihren globalen Kontexten untersucht werden und verstanden werden sollen.
Gleichwohl vertraut Dewey als klassischer Pragmatist den äußeren, natürlichen Gegebenheiten oder Daten noch mehr als seine Nachfolger. Richard Rorty (1982, 74) kritisiert, dass Dewey noch zu sehr eine maßgebende Neutralität („magisterial neutrality“) einsetzt, um unsere konstruktive Tätigkeit zu beschreiben. Rorty beklagt, ganz im Sinne eines konstruktivistischen Standpunktes, dass Dewey noch einen neutralen Beobachterstandpunkt annimmt, der die empirischen Daten zumindest teilweise außerhalb ihres kulturellen Kontextes situiert. Zwar lassen sich gegen Rorty durchaus bei Dewey auch Argumente finden, in denen er den Zusammenhang des kulturellen Kontextes mit allen Daten und Handlungen betont (so z.B. in „Context and Thought“), aber grundsätzlich ist es richtig, dass Rorty das Fehlen einer kulturell hinterfragten Beobachtertheorie feststellt.2
Auch der Konstruktivismus kann Wahrheitsbehauptungen nicht aufgeben, auch wenn er – wie bei Richard Rorty – die Relativität dieser Behauptungen immer kritisch zu bedenken hat. Hier wiederum hängt es ganz von unserem kulturellen Kontext ab, welche Seite wir favorisieren: Eindeutige Objektivität oder Relativität. Wenn jemand in unserer Gesellschaft Einfluss hat und über einen creationism die Evolutionstheorie Darwins in den Schulen verbieten will oder andere offensichtlich unwissenschaftliche Werte mit bloßem Glauben vermengt, dann müssen wir die eindeutig objektive Wahrheit der Evolutionstheorie verteidigen, auch wenn wir wissen, dass es keine absoluten Wahrheiten und nur begrenzte eindeutige Objektivität gibt. Aber es ist die beste Wahrheit, die wir derzeit in diesem bestimmten Fall haben. Wenn aber andererseits in den wissenschaftlichen Institutionen alle auf den Mainstream solcher besten Wahrheiten drängen, dann sollten wir die Relativität dieser Wahrheiten betonen, damit überhaupt Platz für Neues entstehen kann. Hier führt der interaktive Konstruktivismus das Kriterium kultureller Viabilität ein, um zu verdeutlichen, dass auch die wissenschaftlichen Wahrheiten immer eine Kontextprüfung nach sich ziehen müssen.3
Deweys Handlungstheorie stellt zwar eine großartige Wende innerhalb der Philosophie dar, aber sie hat sich noch nicht konsequent in allen Teilen vom Naturalismus befreit und missversteht einen solchen auch als eine Art Restbestand von Metaphysik. Dies wird vor allem dort erkennbar, wo Dewey Metaphysik als ein Feld beschreibt, in dem wir die „generic traits“ studieren, „manifested by existences of all kinds without regard to their differentiation into physical and mental“ (LW1:308). Solche Suche nach gattungsmäßigen Eigenschaften ist jedoch schwierig, denn hier benötigten wir eine Beobachtertheorie, die uns den naturbezogenen Standpunkt selbst relativieren ließe, weil wir ja immer schon in die Naturgeschichte dadurch eingreifen, dass wir sie mit unseren zeitlich bedingten und kulturell begrenzten Fähigkeiten zu erklären versuchen. Wenn wir nicht doch wieder in den auch von Dewey beklagten Fehlern eines universellen letzten Wissens oder einer Abbildungstheorie landen wollen, dann müssen wir die Herleitung jeglicher Metaphysik auch von „generic traits“ aufgeben. Auch hier hat Rorty (1982, 73 f.) die entscheidende Schwäche der Herleitung kritisiert, indem er davor warnt, dass aus solchen Ursprüngen irgendwie immer eine Natur aus sich selbst heraus zu sprechen scheint, was hinter Einsichten zurückfällt, die aus der Handlungstheorie selbst entspringen.
Dewey beschreibt an vielen Stellen seines Werke den Werkzeugcharakter der Erkenntnis. Mit unseren Denkwerkzeugen greifen wir in unser experience ein, wir gestalten und manipulieren die Welt, um daraus Wissen und Erkenntnis zu gewinnen. Zu unseren größten Fehlern gehört es hierbei, aus unseren Handlungen und ihren Funktionen ableiten zu wollen, was die Dinge an sich seien (vgl. LW1:34). Das kann jedoch nicht gelingen, denn das, was unser äußeres Reales ausmacht, ist immer schon durch unsere Handlungen mit ausgedrückt. Dieses Reale sind zunächst Ereignisse (events). „The only way in which the term reality can ever become more than a blanket denotative term is through recourse to specific events in all their diversity and thatness.“ (LW10:39) Aber diese diversen Ereignisse sind für uns Menschen nicht alle gleich bedeutsam. Wir sind mit ihnen nicht neutral oder wertfrei handelnd vermittelt. „While all that happens is equally real – since it really happens – happenings are not of equal worth. Their respective consequences, their import, varies tremendously.“ (MW10:40) Und diese handelnde Vermittlung erlaubt es nicht mehr, den Dingen da draußen an sich einen eigenen Wert zuzusprechen oder uns als Subjekten, ihnen allein aus unserem Bewusstsein heraus die Bestimmung einer ursprünglichen Realität und bestimmter in ihnen liegender Werter zuzuschreiben. Wir müssen diesen Dualismus auflösen: „But if it be true that the self or subject of experience is part and parcel of the course of events, it follows that the self becomes a knower. It becomes a mind in virtue of a distinctive way of partaking in the course of events. The significant distinction is no longer between the knower and the world; it is between different ways of being in and of the movement of things“ (LW10:42).
Dewey hat eine differenzierte Theorie des „experience“ entwickelt, die diese Vermitteltheit zu erklären versucht. Es ist – so sagt er im Spätwerk – eine kulturelle Vermitteltheit, denn der Begriff experience steht für Kultur, ist nicht von Kultur zu trennen.
Handlung als bevorrechtigte Perspektive bedeutet für Dewey auch, dass die Wissenschaften frei sein müssen, ihren Handlungsraum zu bestimmen und zu entwickeln. Hier sieht er Risiken innerhalb des Kapitalismus: „Action restricted to given and fixed ends may attain great technical efficiency; but efficiency is the only quality to which it can lay claim.“ (LW10:45) Der freie Intellektuelle bleibt ein Ideal bei Dewey, zugleich aber auch eine immerwährende Forderung, Demokratie auch in der Wissenschaft zu wagen.4 Die Forderung erscheint als notwendig, weil Dewey die demokratische Unabhängigkeit zwar gefährdet sieht, sie aber nicht grundsätzlich als Möglichkeit bestreiten will. Sehen wir dies aus der Perspektive neuerer Machttheorien mit Foucault oder durch konkrete Untersuchungen des wissenschaftlichen Habitus nach Bourdieu, dann sind die idealtypischen Forderungen und damit verbundene Hoffnungen mehr als erschüttert. Gleichwohl benutzen wir den Idealtypus, den Dewey uns empfiehlt, um immer wieder Mut in der wissenschaftlichen Kritik zu finden und sie – sei es auch nur als therapeutischen Diskurs, wie Rorty meint – zu praktizieren.
Ähnlich wie für den Konstruktivismus ist auch für den Pragmatismus die Frage aufgeworfen worden, inwieweit die hier eingenommene offene Position Handlungen gegenüber und das Zugeständnis von subjektiven Konstruktionen von Wirklichkeiten nicht die Gefahr der Beliebigkeit in wissenschaftlichen Diskursen heraufbeschwört. Eine solche Stelle bei Dewey, in der man auf Beliebigkeit schließen könnte, lautet z.B.: „Habits of speech, including syntax and vocabulary, and modes of interpretation have been formed in the face of inclusive and defining situations of context ... We are not explicitly aware of the role of context just because our every utterance is so saturated with it that it forms the significance of what we say and hear ... Now thought lives, moves, and has its being in and through symbols, and, therefore, depends for meaning upon context as do the symbols … I should venture to assert that the most pervasive fallacy of philosophic thinking goes back to neglect of context.“ (LW6:4-5)
Dieses Zitat ist aus „Context and Thought“. Dewey schrieb die brillante Analyse Anfang der 30er Jahre. Sie ist besonders aktuell, denn er thematisiert nicht nur die Bezogenheit auf sprachliche Bedingungen und Voraussetzungen unseres Denkens, sondern auch auf die Kultur als den wesentlichen Kontext, in dem unser Denken in relativierender Weise stattfindet. Besonders Richard Rorty ist von diesen Gedanken angesprochen gewesen, indem er die Idee des relativierenden Kontextes noch weiter radikalisierte. Für Rorty entscheidet der kulturelle Kontext entscheidend auch mit über die wissenschaftlichen Begründungen. Dewey ist hier etwas vorsichtiger, indem er solche Begründungen an die gerechtfertigte Behauptbarkeit knüpft, die im „inquiry“ gestattet, Wahrheiten relativ eindeutig festzusetzen. Aber auch Dewey hatte erkannt, dass es selbst in den „hard sciences“ keine absoluten Wahrheiten gibt. Das Problem liegt einerseits darin, dass die kohärenten Wahrheitssätze schnell bedeutungslos werden können: „The fallacy of unlimited universalization is found when it is asserted, without any such limiting conditions, that the goal of thinking, particularly of philosophic thought, is to bring all things whatsoever into a single coherent and all inclusive whole. Then the idea of unity which has value and import under specifiable conditions is employed with such an unlimited extension that it loses its meaning.“ (LW6:8) Dewey verweist darauf, dass wir deshalb vorsichtig sein müssen, Dinge als „real“ zu bezeichnen. Diese „reality“ ist nur das, was wir durch eigenes, konstruktives Tun im „inquiry“ mit den Dingen machen. „Within the limits of context found in any valid inquiry, ‘reality’ thus means the confirmed outcome, actual or potential, of the inquiry that is undertaken.“ (LW6:9-10)
Auf der anderen Seite gibt der Kontext nach Dewey „background and selective interest“ (LW6:11). Hintergrund im „experience“ ist immer der kulturelle Hintergrund, der zeitlich und räumlich auftritt, der eine Theorie sein kann, der in immer schon als begründet angenommenen Bedingungen gesehen werden kann. Hier müssen wir besonders kritisch in den Wissenschaften sein, denn der Hintergrund bringt immer auch Interessen hervor, die die gerechtfertigte Behauptbarkeit beeinflussen.
Hier ist Dewey erneut von enormer Aktualität: „There is selectivity (and rejection) found in every operation of thought. There is care, concern, implicated in every act of thought. There is some one who has affection for some things over others; when he becomes a thinker he does not leave his characteristic affection behind. As a thinker, he is still differentially sensitive to some qualities, problems, themes. He may at times turn upon himself and inquire into and attempt to discount his individual attitudes. This operation will render some element in his attitude an object of thought. But it cannot eliminate all elements of selective concern; some deeper-lying ones will still operate.“ (LW6:14) Dies ist bereits eine konstruktivistische Position, denn Dewey erkennt, dass die Subjektivität immer konstruierend in das „inquiry“ eingreift, auch wenn strenge Regeln des „inquiry“ in manchen Wissenschaften besser als in anderen helfen werden, die Subjektivität durch exakte Prozeduren zu begrenzen. Diese Begründungsfigur ist für uns heute bereits konstruktivistisch, weil Dewey wissenschaftliche Erkenntnis immer im Kontext der Entstehung in zeitbezogenen Handlungen sieht, in handelnden Konstruktionen der beteiligten Akteure, wie wir es heute formulieren. Durch eine solche Bestimmung können wir dem wissenschaftlichen Fortschritt gerecht werden und zugleich erkennen, dass auch wir in der Zukunft mit unseren Konstruktionen auf dem Prüfstand der Entwicklung stehen werden. Man wird unsere Theorien und Ideen danach befragen, in welchem Kontext sie entstanden sind und welche Viabilität sie für diesen Kontext hatten. Diese Prüfung der Viabilität ist ein zentrales Anliegen des interaktionistischen Konstruktivismus, wie ich ihn vertrete.5
Der Kulturalismus von Peter Janich erscheint in vielerlei Hinsicht wie eine Neuauflage der Deweyschen Argumentation. Der Kulturalismus von Peter Janich drängt darauf, dass der Konstruktivismus bereits im Diskurs des Wissens klarer und eindeutiger formuliert wird, indem er sich auf die Handlungsfolgen konzentriert, die eine Basis für die Konstruktionen menschlicher Wirklichkeiten bieten. Wäre es möglich, den Handlungsbegriff so eng zu fassen, dass die Weite der Diskurse und damit ihre Unübersichtlichkeit eingeschränkt werden könnte, um den Konstruktivismus von den Fallen der Relativierungen frei zu halten? Müssten alle konstruktivistischen Ansätze hier eine gemeinsame Basis entwickeln? Diesen Fragen geht Janich vor allem nach. Dabei hat er in den letzten Jahren in der Entwicklung der konstruktivistischen Methodologie die wichtige Frage aufgeworfen, inwieweit die verschiedenen Versionen von Wirklichkeiten, die in Kulturen vorhanden sind, neben den kulturrelativen Aspekten der unterschiedlichen Konstruktion und Konstruiertheit nicht auch kulturinvariante Aspekte aufweisen, die dazu nötig sind, damit nicht nur in den Wissenschaften, sondern auch in der Lebenswelt, ja bei allen Handlungen im Bewegungs-, im Herstellungs- wie im Beziehungshandeln in einer Kultur überhaupt hinreichend abgestimmte, koordinierte und wahrscheinliche Handlungen mit übereinstimmenden Effekten oder Erfolgen auftreten. Janich weist nach, dass auch ein konstruktivistischer Ansatz mit dem in der Philosophie bekannten Problem des apriorischen Wissens in dem Sinne umgehen muss, dass sich apriorische Wissensbestände als hochgradig kulturinvariant begründen lassen, auch wenn sie generell als kulturabhängig erscheinen (vgl. Janich 2005 a). Interessant ist, dass auch diese Sicht an Dewey anschließt, denn sein Konzept des „inquiry“ und der gerechtfertigten Behauptbarkeit betont ebenfalls, dass wir einen Standard an wissenschaftlichen Erkenntnissen immer sichern müssen, wenn wir nicht in Willkür und Unwissenschaftlichkeit aufgehen wollen. Aber wie sicher kann ein solcher Standard sein, wenn wir in unseren Handlungen nicht nur auf äußere Ereignisse reagieren, sondern ständig neue Ereignisse hervorbringen? Hindert die Offenheit unserer Handlungen uns nicht grundsätzlich, einen Standard für längere Zeit zu postulieren?
Das Problem liegt darin, dass in der Kultur in vielen Fällen ein bestimmtes Wissen mit eindeutig rekonstruierbaren Handlungsaufforderungen und dahinter stehenden Praktiken immer schon vorliegt, um überhaupt zu einer viablen Handlungskoordination zu gelangen. In solchen Fällen können wir z.B. von relevanten Fakten, von apriorischen Wissensbeständen oder kulturinvarianten Konstruktionen sprechen. Ich greife hierzu ein Beispiel von Janich auf: Aus dem Fernsehen ist das Phänomen des Alibis einer breiten Öffentlichkeit bekannt. Ein Alibi spielt auch vor Gericht eine entscheidende Rolle, um über Schuld oder Unschuld eines Verdächtigen zu entscheiden. Aber wieso wissen wir, was ein Alibi ist? Und inwieweit könnte es zu den nicht ausgesprochenen Handlungsvollzügen einer Kultur gehören, dass eigentlich jeder Bürger wissen sollte, was ein Alibi bedeutet – nicht nur, um angemessen eine Fernsehsendung zu verstehen, sondern auch, um sich rechtlich angemessen an Wahrheitsbedingungen einer Kultur anpassen zu können?
Janich versteht unter dem Alibi-Prinzip, „dass sich eine Person wohl zu zwei verschiedenen Zeiten am selben Ort, nicht aber an zwei verschiedenen Orten zu selben Zeit befinden könne.“ (Janich 2005 a, 12). Dieses Prinzip gilt nicht nur im Alltagshandeln, sondern auch vor Gericht. Es ist in gewisser Weise ein universelles Prinzip und ließe sich in der westlichen Kultur allenfalls durch übernatürliche Deutungen bestreiten, was uns dann allerdings schon qua Konvention aus dem wissenschaftlichen Argumentieren verbannen würde. Verallgemeinert man den erkenntniskritischen Gehalt, dann erscheint in diesem Prinzip ein apriorisches Wissen: „Damit erfüllt dieses Prinzip … zwei Bedingungen, die jenseits aller philologischen Feinheiten den Begriff des Apriorischen bei Kant entsprechen: ein Wissen, das nicht an Erfahrung scheitern kann, gleichwohl die Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung ist, und darüber hinaus strenge Allgemeinheit (gilt für alle Personen) und Notwendigkeit (kann nicht anders sein) hat.“ (Ebd., 13)
Aus konstruktivistischer Sicht sind allerdings auch solche Prinzipien nicht direkt der Natur oder einem platonischen Reich ewiger Urideen oder letzter Gründe entnehmbar, sie sind auch nicht transzendental begründbar, sondern ausschließlich als ein re/konstruiertes Wissen über das menschliche Handeln und seine Folgen zu verstehen. Auch apriorisch erscheinende Prinzipien bedürfen einer Begründung und sie finden ihre Geltung im Kontext der begründenden Konstruktionen. Janich verweist daher zu Recht darauf, dass der Laie weder Kant noch andere Philosophien kennen muss, um das Prinzip des Alibis zu verstehen. Dennoch muss auch der Laie sein Wissen begründen, um es entsprechend des Prinzips korrekt und erfolgreich (sinnverstehend und den Regeln entsprechend) anwenden zu können.
Wieso kann das Alibi nicht an der Erfahrung scheitern? Das Prinzip des Alibis muss schon als sprachlich ausgedrücktes Wissen und dabei als ein Wissen um den Grundsatz, dass eine Person nicht zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten sein kann, pragmatisch (im Blick auf Handlungsvollzüge) begriffen sein, wenn wir für geistige oder praktische Erfahrungen dieses Prinzip in Rechnung stellen wollen. Kurzum: Wir sehen die Erfahrungen mit dem Alibi erst, wenn wir wissen, was ein Alibi ist. Wir haben die Wirklichkeit des Alibis so konstruiert, dass sie nicht an Erfahrungen scheitern, sondern allenfalls bestätigt werden kann. Konstruktionen erzeugen damit Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrungen.
Im Gegensatz zu Kant hat der Pragmatist John Dewey insbesondere auf das experience, den Erfahrungs- und Handlungsraum abgestellt, der für ihn maßgeblich ist, um unser Wissen und seine Folgen zu beurteilen. Allein durch Untersuchungen (inquiry) können wir nach Dewey herausfinden, welche Prinzipien (Normen, Werte, Wahrheiten) für uns Sinn machen, wie lange solcher Sinn Geltung beanspruchen kann (abhängig von unserer inquiry), inwieweit dann aber auch gemachte Erfahrungen (im aktiven Sinne) für uns Brüche oder Veränderungen erzeugen, die das Prinzip (oder Normen, Werte, Wahrheiten) in Frage stellen. Sollte sich der unwahrscheinliche Fall ergeben, dass ein Mensch (heute nur in Fiktionen) doch zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten sein kann, dann wäre das Prinzip zu erneuern. So lange dies nicht der Fall ist, spricht Dewey, weil und so lange wir die Handlungen in unserer inquiry empirisch und/oder logisch rekonstruieren können, von einer gerechtfertigten Behauptbarkeit (warranted assertibility), die für ihn die Wahrheit einer Aussage darstellen lässt.
Janich geht einen ähnlichen Weg wie Dewey. Auch er weist ein pragmatisch-logisches Vorgehen zu, das uns helfen soll, das apriorische Wissen zugleich als ein kulturinvariantes (kulturübergreifende Konventionen im Sinne strikter Normen, Prinzipien usw.) und kulturrelatives (grundsätzlich veränderbare Konstruktionen, sofern durch neue Untersuchungen veranlasst) zu interpretieren. Auch für Janich ist dabei das Handeln entscheidend, das Menschen in Interaktionen investieren müssen, wobei sprachliches Handeln ein Teil solchen Handelns ist (zur Herausbildung dieses Standpunktes vgl. auch Janich 2005 b).
Um das Konzept von Ereignis und Handlung genauer zu verstehen, erscheint es mir als sinnvoll, drei Perspektiven zu unterscheiden:
Rekonstruktion: Dieser Aspekt deckt sich sehr mit dem, was Dewey oder Janich intendieren. Es gilt im Verstehen von Sachverhalten ihren Kontext zu erfassen (so sehr schön von Dewey beschrieben in Context and Thought LW6:3 ff.) und dies bedeutet zugleich, die zu Grunde liegenden Handlungsfolgen entweder als eingegangene und bereits unterstellte Handlungsvoraussetzung zu rekonstruieren oder zumindest zu diskutieren, welche Handlungen als Voraussetzung angesetzt werden könnten oder bedeutsam sein mögen. Die erste Möglichkeit führt zu klaren Ableitungen und Schlussfolgerungen, wie sie Dewey und Janich favorisieren, aber die zweite gesteht zu, dass dies nicht in jedem Fall in einer Eindeutigkeit wird gelingen können, die eine klar gerechtfertigte Behauptbarkeit (wie etwa beim einfachen Fall des Alibis) zulässt.
Dekonstruktion: Aus dieser Perspektive wird grundsätzlich bezweifelt, dass es überhaupt je zu einer vollständigen Analyse kommen kann. Dies scheint mir Dewey stärker als Janich zuzugestehen. Fokussiere ich auf die Auslassungen, die in rekonstruktiver Absicht notwendig sind, um zu hinreichenden Ergebnissen zu gelangen, dann relativiert sich jede noch so gerechtfertigte Behauptbarkeit durch den Kontext einer erneuten Be- und Umschreibung von Kontexten. Dies kann sehr wichtig werden, um dominante Deutungen, die sich nach einiger Zeit als überholt erweisen, auch wieder aufgeben zu können, auch wenn die vormals rationale Position übermächtig erscheint (was Thomas S. Kuhn mit der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen thematisierte). Auch wenn es aus dem Blickwinkel z.B. unserer juristischen Konventionen nicht ratsam erscheinen mag, das Alibi als Handlungsfolge derart zu dekonstruieren, so erleben wir die Macht und Kraft der Dekonstruktionen um so mehr in den Fällen, die sich auf komplexere Handlungsfolgen (wie menschliche Beziehungen, Kommunikation, nachhaltiges Handeln, ökologische Katastrophen, wirtschaftliche Risiken usw.) beziehen.
Konstruktion: Diese Perspektive erhöht die Komplexität noch mehr. Was ist mit solchen Handlungen, die wir erst erzeugen, die also Handlungsfolgen zeigen, die uns konstruktiv (erzeugend, produzierend, aber auch destruierend) als konkrete Erschaffer von in gewisser Weise „neuen“ Wirklichkeiten zeigen? Wahr ist hier zunächst das, was gemacht wird und dadurch wirklich ist; und wirklich ist, was wir im Handeln erzeugen. Es ist hier die Handlung und die Handlungsfolge, die als konstruktiver Akt ihre Rechtfertigung zunächst qua Tun herstellt, was so lange unproblematisch bleiben mag, bis ein Beobachter anfängt, sie für sich zu re/de/konstruieren. Auch der Rekonstruktivist tut in diesem Falle etwas, d.h. er konstruiert sich etwas, was er als Handlungsfolge deutet. Es ist nicht die Wirklichkeit der Handlungsfolge, die sich eindeutig im Beobachter abbildet oder widerspiegelt, sondern die Deutungsmacht der logischen Folge, die uns der Beobachter als Beschreibung liefert und die nun z.B. als eine Aussage über das Alibi erscheint. Erst dieses Erscheinen ist dann die Festlegung des apriorischen Wissens, was es als ein Apriori schlechter Herkunft entlarvt, denn es setzt das Aposteriori eines Beobachters immer schon als konstruktive Leistung voraus.
Ich habe in den Text damit einen konstruktiven Beobachter eingeschmuggelt, der jedoch stets mehr als ein Beobachter ist. Er ist, wenn wir auf die gerechtfertigte Behauptbarkeit nach Dewey oder das apriorische Wissen nach Janich schauen, zugleich bereits ein Teilnehmer an einer Verständigung, die uns qua Bedeutungstheorie sagt, was wie und mit welchen Folgen beobachtet wird. Dieser Beobachter macht uns zu einen Gefangenen seiner Teilnahme. Und er nimmt uns auch noch in der Hinsicht gefangen, dass er uns als Handelnden, als Akteur, in unseren Kontexten sieht, denn dies ist die begründend bei Dewey und Janich bereits vorausgesetzte Bedingung des Beobachtens und Teilnehmens, damit wir uns darauf verständigen, nicht über bloße Einbildungen zu handeln, sondern über das Handeln im Vollzug und einer Widerfahrnis (so sowohl Dewey als auch der methodische Konstruktivismus) oder eines experience (so der Pragmatismus) selbst zu reflektieren. Aus einer solchen Perspektive können wir dann auch in einer abgeleiteten Reflexion durchaus über unsere Einbildungen reflektieren, ohne sie naiv handhaben zu müssen.
Beobachter, Teilnehmer und Akteure sind für mich wesentliche Perspektiven, die wir einnehmen sollten, wenn wir – was mir sinnvoll erscheint – uns mit Theorien nach Dewey oder Janich oder dem hier vertretenen interaktionistischen Konstruktivismus beschäftigen. Sie führen dazu, dass wir im argumentationslogischen Schluss auf Handlungen nicht zu einfach in unseren Beschreibungen werden.
2 Rorty spricht zu Recht davon, dass der Versuch, eine neue Metaphysik auf pragmatistischer Grundlage zu behaupt, zu einer „contradiction in terms“ (Rorty 1982, 81) führt. Im Spätwerk hat Dewey den Begriff „metaphysics“ auch kritisch gesehen und verworfen.
3 Auf die Konsequenzen, die dies für die Bestimmung von Realität und eines Realen im Pragmatismus und Konstruktivismus hat, gehe ich später noch ausführlich ein.
4„Intelligence is, indeed, instrumental through action to the determination of the qualities of future experience. But the very fact that the concern of intelligence is with the future, with the as-yet-unrealized (and with the given and the established only as conditions of the realization of possibilities), makes the action in which it takes effect generous and liberal; free of spirit. Just that action which extends and approves intelligence has an intrinsic value of its own in being instrumental: the intrinsic value of being informed with intelligence in behalf of the enrichment of life. By the same stroke, intelligence becomes truly liberal: knowing is a human undertaking, not an esthetic appreciation carried on by a refined class or a capitalistic possession of a few learned specialists, whether men of science or of philosophy.” (LW10:45)
5 In den „Perspectives of Pragmatism” haben Stefan Neubert und ich ein Videoproekt vorgelegt, in dem namhafte Pragmatisten der Gegenwart auf die bisher genannten und weitere Zitate Deweys antworten, um deren Aktualität zu diskutieren. Vgl. zu ausführlichen Kommentaren aus philosophischer Hinsicht zu diesen und weiterführenden Fragen auch die Internetseite des Kölner Dewey-Centers mit Interviews von renommierten Dewey-Scholars unter http://www.hf.uni-koeln.de/dewey/31679.
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